„Kernbotschaft: Die Studie bestätigt und erweitert bisherige Ergebnisse zu neuroanatomischen Grundlagen bei der Legasthenie. Die Ergebnisse zeigen, dass schon vor Leseerwerb Abweichungen in bestimmten Bereichen des Gehirns bestehen, die mit einer Legasthenie in Verbindung stehen. Außerdem machen die Ergebnisse deutlich, dass die weiße Substanz des Gehrins dynamisch ist und frühe Förderung einen positiven Effekt auf ihre Entwicklung hat.“
Jeder müsste wissen, dass Menschen nicht mit dem Gehirnzustand auf die Welt kommen, den sie zu Beginn des Leseerwerbs haben. Also müsste man sich fragen, was die Entwicklung des Gehirns von manchen Kindern so beeinflusst hat, dass es zu den festgestellten Abweichungen kam. Und das dürfte - selbst wenn Legasthenie in der Familie liegt - nicht leicht sein. Die Ceteris-Paribus-Klausel lässt grüßen.
Besonders interessant ist die Feststellung, dass „nach zwei Jahren Schriftsprachinstruktion“ der Unterschied im Gehirn, der die Legasthenie ausmachte, nicht mehr sichtbar war. Dazu passt der Vortrag von Karin Kucian am 19.03.2017 in Würzburg (2), die anhand von Bildern aus der Magnetresonanztomographie zeigte, dass sich die nachgewiesenen Abweichungen im Gehirn bei Kindern mit einer Rechenstörung durch Üben auflösen. Sie sprach von einer Entwicklungsverzögerung. Drei Jahre zuvor gab es einen Beitrag von Professor Daniel Ansari (3), der schon damals ähnliche Erkenntnisse vermittelte. All diese Forschungsergebnisse machen eines klar: Richtiges Üben kann Legasthenie und Dyskalkulie beseitigen. Nur so deutlich spricht das ansonsten kaum jemand aus. Vielleicht wollen es viele auch gar nicht hören. Es ist auch sicher nicht so leicht, für jedes Kind herauszufinden, welchen besonderen Zugang zum Schriftspracherwerb es braucht, damit es Klick macht.
Auch bei dem viel versprechenden Projekt Legascreen (4) räumt man ein, dass eine reine Prognose des EEG nicht aussagekräftig genug ist. Zusätzlich soll es einen Speicheltest geben, um genetisch bedingte Ursachen mit einzubeziehen. Es heißt, dass man die fünf Prozent Kinder herausfinden will, die später unter einer Legasthenie zu leiden hätten. Ich bin gespannt, wer sich bereit erklären wird, eine solche Frühförderung auf Verdacht zu finanzieren. Und was passiert, wenn Wissenschaftler feststellen, dass nicht geförderte Kinder trotz der festgestellten Verdachtsmomente keine Legasthenie entwickeln?
Da es heute ja nicht mehr um „nur“ 5 Prozent der Kinder geht, die Schwierigkeiten beim Lesen haben, sondern um fast 20 Prozent, wie neulich durch die Presse (5) ging, könnte man ja auf den Gedanken kommen, Frühförderung zu forcieren, auch wenn man nicht genau weiß, was die Ursachen der Lese- oder Rechenschwierigkeiten sind. Vielleicht kann man die Kitas dafür nutzen? In der Grundschule sollte man nicht warten, bis eine Diagnose erstellt wurde, sondern eine individuelle Förderung starten, sobald der Lehrer erste Verzögerungen beim Kind feststellt. Derzeit werden die Probleme viel zu spät angegangen. Heute kommen die Kinder mit einer Entwicklungsbandbreite von bis zu vier Jahren (6) in die Grundschule. Vielleicht braucht es eine nullte Klasse, um bei vielen Kinder sicherzustellen, dass sie die Zeit bekommen, die sie brauchen. Die Förderung muss früher beginnen, um die Dynamik im Gehirn zu nutzen, die in jungen Jahren sicher stärker ist als später. Die jetzige Diagnostik ist sehr aufwendig und erfolgt oft viel zu spät.
Anmerkung 1: LEDY 04.2017 – Seite 17 – Neues aus der Wissenschaft – Early dynamics fo white matter deficits in children developing dyslexia (Vanderauwera, Wouters, Vandermosten & Ghesquière, 2017)
Anmerkung 2: Karin Kucian - Neurobiologie der Rechenstörung - 19. Bundeskongress des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e.V. - 17.-19-03.2017 – Würzburg
Anmerkung 3: Daniel Ansari - Die Neurobiologie des Rechnens - 18. Bundeskongress des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e.V. – 9.–11. Mai 2014 – Erfurt
Anmerkung 4: LEDY 04.2017 – Seite 21 - Forschungsprojekt Legascreen – Lese-Rechtschreibstörtung rechtzeitig erkennen: Grundlagen für zukünftigen Frühtest gelegt – Pressemitteilung des Fraunhofer Instituts für Zelltherapie umd Immunologie vom 20.07.2017
Anmerkung 5: Süddeutsche Zeitung.de - 5. Dezember 2017 - Grundschule - Fast 20 Prozent der Viertklässler haben Probleme beim Lesen
Anmerkung 6: Lorenz Huck - „Das konnte ich noch nie...“ - 19. Bundeskongress des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie e.V. - 17.-19-03.2017 – Würzburg (siehe auch meinen früheren Blogbeitrag zu diesem Kongress)