Petra Küspert schreibt dazu in einem Buch: „Die Einschulung ist nicht die Stunde Null für das Lesen- und Schreibenlernen.“ Im Falle eines Erstklässlers, den ich zur Leseförderung an einer Grundschule übernommen hatte, informierte ich die Lehrerin, dass ich keine Chance sehe, Verbesserungen zu erreichen. Ich stellte die Vermutung an, dass das Kind noch gar nicht schulreif sei. Die Lehrerin bestätigte das sofort und sagte, man müsse leider den Elternwillen akzeptieren. Ingrid M. Naegele schreibt, „dass sich die Kinder am Schulanfang um bis zu drei Jahre in ihrer kognitiven Entwicklung unterscheiden können.“ Über Ostern habe ich ein Buch mit dem Titel „Die Lüge der digitalen Bildung“ gelesen. Darin kann man nachlesen, was zumindest eine der Ursachen ist, nämlich die zu frühe und zu intensive Beschäftigung der Kinder mit digitalen Medien, die nur ein Surrogat der Wirklichkeit sind. Nur ein Zitat: „Je länger Kinder vor digitalen Spielzeugen sitzen, desto weniger erleben sie die reale Welt. Mit allen negativen Konsequenzen für ihre kognitive Entwicklung! Was sie scheinbar fördert (Anm.: gemeint ist die Werbung für mediale Produkte), untergräbt ihre Fähigkeit, die Welt zu entdecken. Digitalität statt Realität ...“
Die Grundschulen sind auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die sie in den ersten Klassen erleben, nicht eingestellt. Sie können die Defizite schon aus Kapazitätsgründen nicht aufarbeiten. Und wenn die Basisfertigkeiten nicht gesichert sind, wie soll das, was man darauf aufbaut, jemals sicher werden? Deswegen fange ich bei vielen Schülern bei null oder fast bei null an. Wenn mir Lehrer sagen, ich solle mit meinen Schülern die Texte lesen, die gerade in der Klasse durchgenommen werden, lehne ich das ab. Die Texte sind für die Schüler noch zu schwierig. Ich muss auf ein Niveau gehen, bei dem die Schüler eine Chance haben, wo sie selbst Erfolge sehen und vor allem Erfolgserlebnisse haben und langsam ihren Rückstand aufholen können.
Vielleicht bräuchten wir in der Grundschule eine Klasse Null, in der die betreffenden Kinder zur Schulreife gebracht werden, und wo sie das nach- und aufholen können, was sie bisher, aus welchen Gründen auch immer - versäumt haben. Denn, wenn die Grundlage für den Unterricht fehlt, dann werden die Schüler immer Schwierigkeiten haben, mitzuhalten. Die jüngsten Forschungsergebnisse über die Wirksamkeit der Frühförderung beim Lesenlernen zeigen, dass man etwas tun kann.
Die Corona-Krise wird die Probleme verstärken. Mein Rat an Eltern, deren Kinder in der jetzigen Phase noch Schwächen zeigen: Lieber freiwillig wiederholen, als im nächsten Jahr hoffnungslos hinterherzuhinken. Die Weichen für die Schulkarriere werden in den ersten Schuljahren gestellt! Wenn da die Basis nicht gesichert ist, belastet das meist die gesamte weitere Schulkarriere.
[1] Ledy – Das Mitgliedermagazin des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie, Dr. Petra Küspert, Was ist eigentlich eine Dyskalkulietherapie?
[1] Petra Küspert, Neue Strategien gegen Legasthenie, Lese- und Rechtschreibschwäche: Erkennen, Vorbeugen, Behandeln, ObersteBrink Eltern-Bibliothek, 3. Auflage 2005, Seite 30
[1] Ingrid M. Naegele – Schulerfolg trotz LRS – 2017 – Beltz-Verlag
[1] Gerald Lembke und Ingo Leipner - Die Lüge der digitalen Bildung
[1] LVL Bayern – Interdisziplinäre Fachtagung