Praktisch ist das Buch ein Nachwort zum vorhergehenden Titel „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Der Autor setzt sich mit den Reaktionen auf sein erstes Werk auseinander. Die verschiedenen Stufen der Beziehungsstörung werden noch einmal verständlich und trotz Wiederholung sehr interessant beschrieben. Die Ursache der Probleme wird immer deutlicher. Zitat Seite Seite 29: „Akzeptanz des Kindes, Eingehen auf seine Wünsche und Bedürfnisse haben sich gegenüber ausschließlich autoritär ausgerichteten Erziehungsstilen stark verbessert. In dieser Hinsicht wird heute modern gedacht. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer.“ Man sieht heute das Kind nicht als Kind, sondern als Partner auf Augenhöhe. Aber ein Kind kann diese Rolle nicht leisten, es ist überfordert. Dazu werden die Entwicklungsstufen, die das Kind durchläuft, ausführlich beschrieben. Z.B., dass das Kind erst mit drei Jahren zwischen sich und seinen Gegenübern unterscheiden lernt. Erst ab dem 15. Lebensjahr kann ein Mensch voll für sein Handeln haftbar gemacht werden.
Sehr instruktiv sind die Beispiele aus der Praxis des Autors. Man erkennt sehr gut, dass viele Kinder tatsächlich auf einer frühen Stufe der psychischen Entwicklung stehen geblieben sind und in einer frühkindlichen Welt leben, in der es nur ein Sofort und kein Später gibt. Ein unerzogenes Kind ist in Wirklichkeit ein nicht entwickeltes Kind.
Sehr gut haben mir die Ausführungen zu den Konzepten gefallen, nach denen die Kinder betrachtet werden. Das Konzept „Kind als Kind“ wird leider häufig durch andere Konzepte ersetzt, beginnend mit dem Konzept „Kind als Partner“. Und immer gibt es im Buch nicht nur Theorie, sondern einen überzeugenden Bezug zur Praxis. Die verschiedenen Konzepte führen zu zahlreichen Kommunikationsstörungen, z.B. auch zwischen Lehrern, die dem Konzept „Kind als Kind“ verpflichtet sind, und ihre Kinder als Schützlinge sehen, und solchen, die die Kinder als Partner sehen. Aber Kinder sind noch nicht voll entwickelt und können schon deshalb keine Partner sein, die ihre Entscheidungen alle selbst treffen können. Trotzdem werden Lehrer, die ihre Schüler als Kinder sehen, oft als reaktionär angesehen und kritisch beäugt.
Der Autor beleuchtet auch die Entwicklungsperspektiven unserer Gesellschaft unter dem Vorzeichen fehlender Psycheentwicklung ebenso wie die private Sphäre. Was das alles für Kindergarten und Schule bedeutet? Die Defizite werden aufgedeckt, und da muss ich oft an meine Erfahrungen denken. Zitat Seite 203: „Die Konzepte, die seit Jahren Eingang in die Arbeitsprozesse an Schulen und Kindergärten gefunden haben, sind im Wesentlichen partnerschaftlicher Natur. Hier sind über viele Jahre hinweg Sünden begangen worden, deren Auswirkungen heute Schüler und Lehrer zu spüren bekommen. Anders gesagt: Das Konzept „Kind als Partner“ ist in dieser Zeit in markige pädagogische Leitsätze gegossen worden. Es wird als modernes Menschenbild und Fortschritt beim Umgang mit Kindern verkauft und nicht als Ursache für Probleme gesehen.“ Seite 206: „Es gilt als modern, den Alltag an der Schule möglichst offen und eher unverbindlich zu halten. Man überträgt hier hart erstrittene Erwachsenenrechte eins zu eins auf Kinder und lässt sie dann damit allein. Das ist fatal.“ Reformen und neue Methoden haben nach kritischer Überprüfung nichts gebracht. Die Schüler sind weder disziplinierter noch leistungsstärker geworden. Seite 217: „Wir haben heute immer mehr Kinder als früher, die den Entwicklungsstand nicht haben, um das leisten zu können, was die Reformansätze ihnen abverlangen. Und wir haben immer weniger Elternhäuser, die solche Fehlentwicklungen in der Schule auffangen können. Es wurde mittlerweile an so vielen Stellschrauben gedreht, dass keiner mehr weiß, was welche Auswirkungen hat.“
Mit dem Kapitel „Was ist zu tun?“ schließt das Buch. Ob die überzeugend beschriebenen Maßnahmen ergriffen werden? Spätestens beim Unterkapitel „Wachrütteln der politischen Instanzen“ muss man leider zweifeln. Mir hat das Buch wertvolle Hinweise für meine Arbeit gegeben.