Michael Winterhoff – Deutschland verdummt – Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut – Gütersloher Verlagshaus - ISBN 978-3-579-01468-5
Der Autor macht darauf aufmerksam, dass sich die Psyche vieler Kinder aufgrund des Umgangs im Elternhaus und der Methoden in Kindergärten und Schulen nicht richtig entwickeln kann, warnt vor den Konsequenzen und zeigt notwendige Maßnahmen auf. Die Beispiele, die er bringt, und die Symptome, die er aufzeigt, erinnern mich an so manche Schüler, die ich im Laufe der letzten zehn Jahre gefördert habe.
Dass man Kindern nur freie Bahn lassen muss, damit sie sich ganz von allein – also autonom – zu verantwortungsbewussten und sozial kompetenten Erwachsenen entwickeln – das ist das Zentrum der Verirrungen in der Bildungspolitik. Immer wieder prangert der Autor an, dass man heute meint, mit Kindern auf Augenhöhe verhandeln oder sie als kleine Erwachsene behandeln zu müssen. Die Psyche des Kindes, die die Orientierung am Erwachsenen, an Bezugspersonen, für ihre Entwicklung braucht, wird nicht gestärkt. Offener Unterricht ist da genau die falsche Methode. Sehr schön finde ich dazu dieses Zitat: „Die Entscheidung, die wir Erwachsenen dringend für unsere Kinder treffen müssen, ist nicht die zwischen ´offenem Unterricht´ und ´Frontalunterricht´. Sondern die zwischen ´Unterricht, in dem die Kinder alleine gelassen werden´, und ´Unterricht, in dem die Kinder von Lehrern angeleitet und begleitet werden.´“
Etliche Kapitel erhalten erläuternde, praxisbezogene Interviews mit Personen aus dem Schulbetrieb. Beispiel, Lehrerin an einer 5. Klasse in einem Gymnasium: „Die Fähigkeiten, über die Zehnjährige nach vier Jahren kompetenzorientierter Grundschule verfügen, sind leider sehr überschaubar. Den meisten Kindern fehlt es an den kulturellen Grundlagen Rechnen, Schreiben und Lesen.“ Ich höre so etwas auch von Lehrern an Mittelschulen.
Im Kapitel „Die Lehrer – Kinder wieder anleiten, statt ihr Lernbegleiter zu sein“ gibt der Autor Hinweise, was Lehrer tun können. Z.B. in ihrer psychischen Entwicklung zurückgebliebene Kinder identifizieren, um ihnen so begegnen zu können, wie es bezogen auf ihren Entwicklungsstand angemessen ist. Auch: „Klare Anweisungen geben, mit den Kindern in Kontakt sein und aus dem Einzelkämpfer-Status herausfinden, also in Teams mit verschiedenen Mitliedern der heilpädagogischen Berufe zusammenarbeiten.“
„Am Anfang der Probleme, die wir aufgrund der vielen nicht entwickelten Kinder und Jugendlichen haben, stehen ihre Eltern.“ Und hier beschreibt der Autor seine Theorie der in der Symbiose gefangenen Eltern, die das Kind als einen Teil von sich betrachten. Auch das konnte ich in meiner bescheidenen Praxis schon beobachten. Solche Kinder steuern ihre Eltern. Und diese sind oft im „Katastrophenmodus“ gefangen. Die Kinder können sich psychisch nicht entwickeln. Sie müssten in Kindergarten und Schule nachreifen. Das Tragische dabei ist, „´autonomes Lernen´ und Entwicklung der Psyche sind diametral entgegengesetzt.“ Gut gefallen hat mir, dass der Autor den Wert von Hausaufgaben betont und den richtigen Umgang damit erläutert.
Ein Kapitel ist der zunehmenden Pathologisierung der Kinder gewidmet. Der Autor spricht von einer „grassierenden Diagnoseritis“. Im Zusammenhang mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten kann ich das aus meiner Praxis nur bestätigen.
Sehr gut gefallen hat mir folgende Erläuterung: „Seine (Junge aus der Praxis des Autors) Untersuchung zeigte unter anderem, dass er einen IQ von 140 hat; ... Doch diese Grundintelligenz trägt nur einen gewissen Teil dazu bei, ob ein Leben gelingt. Sie ist wie die Festplatte eines Computers. Ganz gleich, wie groß sie ist - , es kommt auf das Betriebssystem an, also auf die emotionale und soziale Intelligenz. Die Grundintelligenz ist angeboren, doch emotionale und soziale Intelligenz müssen erworben werden.“
Im letzten Kapitel „Bildungsoffensive“ sagt der Autor, was nötig ist. U.a., die Dinge beim Namen nennen, also nicht mehr schönreden. Ich habe das schon oft erlebt: In der Schule klagen Lehrer über Unterrichtsausfall. Kurz darauf höre ich im Radio den zuständigen Minister, der stolz erklärt, dass kein Unterricht ausgefallen ist. Nach seiner Definition ist Unterrichtsausfall nur dann, wenn die Kinder heimgeschickt werden. Das werden sie aber nicht, auch wenn viele Lehrer krank sind, sie kommen mit anderen Klassen zusammen, gucken einen Film oder werden sonst wie beschäftigt.
Außerdem müsse die Sparpolitik im Bildungswesen gestoppt werden. Von der Digitalisierung der Kindergärten und Grundschulen hält der Autor – genau wie ich auch – nichts.