Es ist ein schönes Gefühl, wenn man nach dem Arbeitsleben nicht nur sich selbst "pflegt", sondern auch noch etwas für die Gesellschaft tun kann. Bei einem Bewerbertraining für Hauptschüler, das ich für die AktivSenioren Bayern e.V. durchführte, lernte ich eine Schülerin kennen, die sich sehr schwer mit dem Lesen tat. Sie konnte es überhaupt nicht. Sie war Legasthenikerin. Ich beschloss, ihr zu helfen und habe dabei ein neues, sehr schönes Aufgabengebiet gefunden. Ich suche Mitstreiter, die mithelfen, Schülern, die nicht richtig lesen können, Erfolgsrelebnisse zu verschaffen.
Ein neuer Lebensabsschnitt
Wenn man ein ausgefülltes, aber auch sehr arbeitsreiches Berufsleben abschließt, beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Ich habe mir damals vorgenommen, Dinge zu tun, für die ich bisher keine Zeit hatte, und die für mich etwas Neues waren. Kochen zu lernen, war einer meiner Pläne, um die meine Gedanken kreisten. Aber nach einem wirklich arbeitsreichem Berufsleben und dem überwältigenden Verabschiedungstrubel bei DATEV war erst einmal Erholung angesagt und eine lange Amerikareise mit Besuch der Tochter.Meiner Initiative liegen Erfahrungen zugrunde, die ich im Berufsleben als Service- und Vertriebschef bei DATEV erworben habe. Einer meiner Grundsätze ist: Probleme müssen an der Wurzel angepackt werden. Das Kurieren der Symptome ist nicht nur aufwendiger, sondern auch teurer. Deshalb unterstützt meine Initiative Schulen, vor allem Grundschulen. Ich hoffe auf viele Mitstreiter.
Mein Lebenslauf
Ich bin bei der Leseförderung Quereinsteiger. Nach einer langen, sehr erfolgreichen Berufslaufbahn, wollte ich etwas Neues machen. Ich habe mich in das neue Gebiet so eingearbeitet, als ob ich in einem neuen Gebiet Karriere machen müsste.
Siegbert Rudolph - Dipl.-Betriebswirt (FH) 1968, Jahrgang 1944
- Kaufmännische Lehre: A.W. Faber-Castell, Stein
- Letzte berufliche Stellung – bis Sept. 2008: DATEV eG, Vorstandsressort Service und Vertrieb, stellvertretender Vorstandsvorsitzender
- Zeitweiliger ehrenamtlicher Einsatz als Mitglied der AktivSenioren Bayern e.V., Region Mittelfranken
- Ehrenamtlicher Einsatz für den Präventionsverein 1-2-3 e.V. des Landkreises Fürth.
- Interessen: Förderung von Schülern mit Leseschwierigkeiten, Legasthenie, klassische Musik, Internationale Orgelwoche Nürnberg, Fahrradfahren
Plötzlich fehlte etwas
Nach rund 9 Monaten „Erholung“ überlegte ich, wie ich meine Pläne realisieren konnte. Aber je mehr ich mich damit beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass mir etwas fehlt und weiter fehlen würde: Mit anderen Menschen etwas zu unternehmen, die eigene Erfahrung noch zu nutzen und etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu tun. Bei den AktivSenioren Bayern e.V. konnte ich dieses verwirklichen. Und die anderen Pläne hatten plötzlich noch viel Zeit. Was mir an diesem Verein so gefällt, das ist die Möglichkeit, auch im Ruhestand noch fachlich herausgefordert zu sein und dabei anderen helfen zu können. Ich habe 40 Jahre für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte gearbeitet. Viele Angehörige dieser Berufe scheiden nicht komplett aus dem Berufsleben aus. Sie betreuen „im Ruhestand“ einfach wenige Mandanten oder konzentrieren sich auf bestimmte Spezialfälle, außerdem bilden sie sich ständig weiter. Das hat mir schon immer sehr gefallen, und ich war da sogar ein wenig neidisch. Mein Verein bietet mir jetzt praktisch die gleichen Möglichkeiten. Wir sind keine Unternehmensberater. Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe und geben Ratschläge und Anleitungen zum Handeln. Und ich habe meine Absicht, etwas Neues zu tun, ebenfalls realisiert. Bewerbertraining und Lesetraining, damit hatte ich während meiner Berufstätigkeit nichts zu tun - und trotzdem kann ich da auf meinen Erfahrungen aufbauen.
Das Schockerlebnis
Bei einem Bewerbertraining hatte ich es mit einer Schülerin zu tun, die die Anzeige, die wir im Internet herausgesucht hatten, praktisch nicht lesen konnte. Für mich war das ein Schock. Ich wandte mich an die Lehrerin und fragte, was mit dieser Schülerin los sei. Legasthenikerin sei sie, sagte mir die Lehrerin. In Mathe werden ihr die Aufgaben vorgelesen. Ich kannte zwar das Wort Legastheniker, aber ich hatte nie praktisch damit zu tun. Ich dachte, das kann so nicht bleiben, und bot im unwiderstehlichen Drang zu helfen an, dieser 15jähringen Schülerin das Lesen beizubringen. Ich wollte nicht glauben, dass jemand nicht Lesen lernen kann.
Die Ernüchterung
Wir lasen zunächst aktuelle Zeitungsartikel, besser gesagt, wir versuchten es. Es war ernüchternd. Viele, für mich völlig unverständliche Lesefehler, kein Textverständnis und ein eingeschränkter Wortschatz. Aber die junge Frau war motiviert. Nach zwei Monaten konnte ich nicht den geringsten Fortschrit feststellen. Lediglich beim Lesen isolierter kurzer, einfacher Wörter war eine leicht Verbesserung festzustellen. Das war ein gewisser Hoffnungsschimmer und ein Ansatzpunkt.
Gedanken eines Quereinsteigers
Als Quereinsteiger zog ich natürlich Parallelen zu meinen bisherigen Erfahrungen. Schon ganz zu Anfang unserer Übungen hatte ich der Schülerin erzählt, dass jeder andere Talente und Begabungen hat. Und es ist ganz normal, wenn man sich auf einem Gebiet schwerer tut als andere Menschen. Zum Beispiel habe ich über ein Jahr gebraucht, bis ich das Schwimmen konnte. Man kann ganz gut damit leben, wenn man nicht schwimmen kann. Aber nicht lesen zu können, das benachteiligt einen Menschen sein ganzes Leben. Zwar gibt es heute viele technische Hilfsmittel, zum Beispiel Scanner, die den markierten Text in Sprache übertragen, aber das löst längst nicht alle Probleme. Oft heißt es, Legastheniker hätten auf anderen Gebieten besondere Talente. Aber es ist sicher keineswegs so, dass jeder Legastheniker auf irgendeinem anderen Gebiet automatisch zu besonderen Höchstleistungen fähig ist. Ich halte das für einen schönen „Trost“. Viele Menschen, wahrscheinlich die allermeisten, die auf irgendeinem Gebiet Höchstleistungen erbringen, können auch sehr gut lesen. Meine Erfahrung lehrt mich, Dinge, die zu erkären sind, zu vereinfachen. Die Methode, den Schwierigkeitsgrad zu minimieren, brachte den Durchbruch.
"Einfach" lesen
Die Konsequenz aus diesen Überlegungen war, nicht ganze Artikel mit schwierigen Wörtern gemeinsam zu lesen, sondern einfache Sätze. Wenn schwierige Wörter dabei waren, dann wurden die in ihre Lautbestandteile zerlegt. Darauf bin ich allerdings auch erst nach einiger Zeit gekommen. Ich habe viele Übungen mit Powerpoint angelegt und dabei auch die benutzerdefinierte Animation eingesetzt, mit der man sehr schön Übungen erstellen kann. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich erkannt habe, dass meine Schülerin, im Bemühen schneller zu lesen, häufig Wörter zu erraten versucht. Ich habe dann Phantasiewörter erfunden und vor dem Lesen angekündigt, dass diese Wörter nicht erraten werden können. Mit diesen Übungen habe ich meine Schülerin „gezwungen", sich die Zeit zu nehmen, die Wörter genau „zu entziffern“. Ich ließ ihr keinen Lesefehler durchgehen und bat sie ganz geduldig immer wieder, das Wort erneut zu probieren, manchmal bis zu fünfmal, bis es richtig gelesen wurde. Und viele Wörter musste ich ihr mehrmals vorsprechen. Mein Gefühl war, dass die Fehlerhäufigkeit abnahm, wenn auch nur geringfügig. Und dann kam ganz plötzlich der Durchbruch. Mit jeder Übungsstunde wurde sie sicherer. Sie hatte sich eine neue Lesetechnik angeeignet. Sie hatte aber auch den unbedingten Willen, endlich lesen zu können. Heute weiß ich, dass viele Schüler die gleichen Leseprobleme haben, allerdings in ganz unterschiedlichen Ausprägungen.
Meine Aufgabe für meine nachberufliche Zeit
Inzwischen habe ich mich stärker mit dem Thema Legasthenie beschäftigt. Ich musste lernen, dass Legasthenie manchmal für eine Krankheit gehalten wird, dass Legasthenie in Bayern als Behinderung anerkannt ist und dass es jede Menge Informationen widersprüchlicher Art in der Literatur und im Internet gibt. Unbestritten ist, dass es rund vier Prozent Legastheniker gibt. Und bis zu 20 Prozent der Schüler sollen nicht richtig lesen können. Und das trotz eines vielfältigen Hilfsangebots. Man müsste also etwas tun. Als ehemaliger Manager weiß ich, dass "man müsste" gar nichts bewirkt. Deswegen mache ich etwas und habe bei den AktivSenioren Bayern e.V. in der Region Mittelfranken das Projekt „Lesekoch“ gestartet.
Warum heißt meine Initiative "Der Lesekoch"?
Weil ich im Ruhestand Kochen lernen wollte, aber dazu aber nicht komme. Außerdem meine ich, dass meine Methode so etwas wie ein Kochrezept ist.
Für wen hätte ich denn kochen sollen? Und wo? Meine Frau sagte zu meinen Plänen schlicht und einfach: "Koche wo und für wen du willst, aber nicht in meiner Küche!" Damit musste ich mir einen neuen Zeitvertreib suchen. Mir war im Ruhestand auch sehr schnell bewußt geworden, dass ich Kontakte brauche. Und das Lesethema, das ich durch das Bewerbungstraining entdeckt habe, gibt mir das, was ich auch im Beruf hatte: Ich kann helfen, habe Kontakte und ich bin gefordert.
Jeder Schüler kann das Lesen lernen
Ja, aber nicht immer in der gleichen Zeit, nach der gleichen Methode und der gleichen Lehrperson! Lesen lernt man nur durch lesen (Renate Valtin). Aber es kommt darauf an, richtig zu lernen. Leseschwache Schüler brauchen deshalb Hilfe. Lesepate oder Lesetrainer ist eine befriedigende Beschäftigung mit jungen Menschen. Mein Übungssystem ist dafür nur ein Werkzeug. Am wichtigsten ist der Trainer, der den Schüler motiviert.