Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten – Diagnose – Förderung – Materialien – Ein Fortbildungsmodell der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen – Gesamtleitung und Gesamtredaktion: Bernd Ganser – Auer Verlag GmbH, Donauwörth
Dieses Sammelwerk hat es in sich. Eine Fachlehrerin hatte es mir geliehen. Ich wollte es mir ansehen und dann entscheiden, ob ich mir ein Exemplar kaufe. Aber ich war schon von der ersten Seiten so fasziniert, dass ich beschloss, meine Notizen in dieses Exemplar zu schreiben und dafür das neue Buch zurückzugeben.
Das Buch ist ein Sammelwerk und bietet einen sehr guten Überblick und viele Detailinformationen zum Thema. Es ist angereichert durch anschauliche Beispiele, die ich zum Teil auch in meinem Programm berücksichtigt habe. Ich werde in dieser Buchbesprechung auch meine persönlichen Erfahrungen einfließen lassen.
Für mich am wichtigsten sind die Beiträge von Bernd Ganser und Renate Valtin. Gleich auf der ersten Seite des ersten Kapitels „Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten – Folgen eines gestörten Lernprozesses?“ stand ein Satz, der mich in einen Zustand versetzte, den Rest des Buches wie einen Roman verschlingen zu können:
„Eine Differenzierung der beiden Gruppen (Legastheniker und Lese-Rechtschreibschwäche) leistet daher keinen besonderen Beitrag, wenn es darum geht, die besonderen Schwierigkeiten, die das Lesen- und Rechtschreibenlernen manchen Kindern bereitete, zu analysieren. Zitat Klicpera und Gasteiger-Klicpera 1993.“ Das stimmt mit meinem "Weltbild" überein, denn über die Einteilung in Legastheniker und Kindern mit Lese-Rechtschreibschwäche habe ich schon viel gelesen, und diese Klassifizierung hat mich in keiner Version überzeugt.
Auf alle meine Schüler trifft das zu, was bei Bernd Ganser wie folgt steht: „Beim Lesen kann man annehmen, dass lese- und rechtschreibschwache Kinder deshalb so viele Lesefehler machen, weil sie u.a. nur mit Schwierigkeiten in der Lage sind, Wörter in für sie erlesbare Segmente zu gliedern (visuell und auch akustisch). Es wird her vermutet, dass diese Kinder versuchen, das Wort als Ganzes zu lesen, was völlig misslingt, weil entsprechende Merkmalslisten im Langzeitgedächtnis fehlen oder ein ähnliches Wort „gelesen“ wird, das dem zu lesenden in irgendeiner Weise ähnelt.“ Diese falsche Lesetechnik ist das Hauptproblem, zumindest bei meinen Schülern. (Es kommen gelegentlich noch Buchstabenverwechslungen hinzu, aber die konnte ich mit geeigneten, individuell zugeschnittenen Übungen „wegtrainieren“.)
Die nächste Autorin in diesem Sammelwerk, Renate Valtin, schreibt zum gleichen Problem ab Seite 19: „Meine zentrale These lautet, dass die Lernenden beim Schriftspracherwerb zu einer gedanklichen Klarheit in Bezug auf Funktion und Aufbau der Schrift gelangen müssen. Ferner brauchen sie metakognitives Wissen in Bezug auf geeignete Lern- und Übungsstrategien sowie effektive Arbeitstechniken. Kinder mit Lernschwierigkeiten haben falsche Vorstellungen und unangemessene Strategien entwickelt als Ausfluss falscher Lehrstrategien; aber häufig sind sie auch deshalb zustande gekommen, weil Lehrer und Lehrerinnen zu wenig den Entwicklungsstand des Kindes kennen und berücksichtigen.“ Mir fehlt noch die Erfahrung, den Lehrprozess beurteilen zu können. Eines aber ist mir klar geworden: Die Klassen sind zu groß. Wie soll eine Lehrkraft auf jeden Schüler eingehen können? Mit Verwunderung habe ich einige methodische Dinge zur Kenntnis genommen, deren Sinnhaftigkeit sich mir noch nicht erschließt. Mir war neu, dass die Schüler heute zunächst phonetisch ohne Berücksichtigung der Rechtschreibregeln schreiben dürfen und dass Schönschreiben nicht mehr geübt wird. Ich hoffe, die Lehrer haben mehr Übung im Entziffern des Gekritzels, das es da oft gibt. Den Unterschied sehe ich bei einer Schülerin, die vor einem Jahr aus Rumänien kam, und der ich helfe, schneller Deutsch zu lernen. Ihre klare, saubere Schrift ist eine echte Genuss.
Ich fühle mich richtig bestärkt durch Renate Valtin, wenn sie am Schluss dieses Absatzes feststelle: „Viel Resonanz in der Öffentlichkeit finden nach wie vor die Verfechter des „klassischen“ Legastheniekonzepts, die Legasthenie als spezielle Lese-Rechtschreib-Störung bei intelligenten Kindern definieren bzw. bei Kindern, bei denen eine Diskrepanz zwischen hohem IQ und schwachen Lese-Rechtschreib-Leistungen besteht. Die Legasthenie sei erkennbar anhand besonderer Fehler, der Reversionen (dies sind Verwechslungen spiegelbildlicher Buchstaben wie d-b, p-q oder Vertauschungen wie bei ie-ei), wobei angeborene bzw. ererbte Defekte des Kindes („Teilleistungsstörungen“) als Ursache angesehen werden. Das Konzept der klassischen Legasthenie ist jedoch weder sinnvoll noch brauchbar (s. auch Scheerer-Neumann 1997)“.
Ich gebe dazu eine ganze Passage auf Seite 26 wieder: „Man fragt sich, wieso das Funktionsmodell und das klassische Legastheniekonzept sich nach wie vor so großer Beliebtheit erfreuen, denn viele Gruppen berufen sich darauf, so zum Beispiel der „Bundesverband Legasthenie“, eine Interessenvertretung von Eltern „legasthenischer“ Kinder, aber auch Therapeuten und Lehrer. Dieses Konzept hat einerseits eine entlastende Funktion für die Beteiligten, Lehrer/innen, die sich auf Legasthenie, Teilleistungsstörungen oder MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion) berufen, können sich von Schuldgefühlen befreien, wenn sie die Ursachen für schulische Leistungsprobleme in Defekten des Kindes sehen. Andererseits ist das medizinische Modell auch nützlich. En nützt Eltern, wenn sie bem Ausbleiben schulischer Hilfen eine außerschulische Therapie für das Kind aufgrund "visueller oder auditiver Differenzierungsschwächen" oder anderweittiger "Teilleistungsschwächen" finanziert bekommen."
Und weiter: „Fruchtbarer für diagnostische und therapeutische Zwecke erscheint die Erklärung der Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten innerhalb eines Ansatzes, der das dynamische Wechselspiel sozial-familiärer, individuell-kognitiver und schulischer Faktoren berücksichtigt. LRS wird im Sinne Bergks nicht als Lernbehinderung, sondern als Behinderung des Lernens, nicht als Beeinträchtigung der Lernfähigkeit, sondern als Beeinträchtigung der Lernmöglichkeiten angesehen (Bergk 1980).“
Sigrun Richter schreibt sogar, Seite 46: „Diese Versuche – nämlich die Leseschwierigkeiten im Rahmen des Konstrukts „Legasthenie“ mit Funktionsstörungen zu erklären – können als gescheitert angesehen werden.“ Wenn ich im Internet nach Legasthenie suche, gewinne ich allerdings diesen Eindruck nicht. Die weit überwiegenden Fundstellen betreffen den medizinischen Ansatz.
Eine weitere interessante Feststellung, die mit meinen Erfahrungen übereinstimmt, zieht sich durch das Buch: Sigurn Richter schreibt auf Seite 50: „… dass sich Kinder gleichen Lebensalters auf unterschiedlichen Stufen befinden können und dass sie unterschiedlich viel Zeit brauchen, um die nächste Stufe zu erreichen.“ Später heißt es: „Es gibt keine allgemein gültigen Werte, wie lange ein Kind auf einer Stufe verbleibt, bis es den Sprung zur nächsten schafft.“ Und: „Leseschwierigkeiten lassen sich also unter der Perspektive der Entwicklungsmodelle zunächst als Verzögerungen im Lernprozess beschreiben, die sich allerdings zu Entwicklungsstörungen auswachsen können, wenn die Regeln des Entwicklungsprozesses nicht beachtet werden.“
Karin Olesch zitiert dazu eine These von Renate Valtin, nämlich „dass legasthenische Kinder auf unteren Ebenen der Schriftsprachentwicklung stehen geblieben sind, weil sie größere Hürden zu überwinden haben“ und die Lernanforderungen, die an die gesamte Klasse gestellt werden, keine optimale Passung mit ihren Lernvoraussetzungen haben.
Es gibt in diesem Buch nur einen Punkt, den ich nicht verstanden habe: Karin Olesch schreibt über die Bemühungen, ein Einstiegskonzept von der Sprache zur Schrift zu finden, und stellt dazu auf Seite 221 fest: „Der seit 1997 in Bayern durchgeführte Schulversuch „Phonetisches Schreiben“ versucht diesem Ansatz gerecht zu werden. Im Mittelpunkt stehe daher die Hinführung aller Schüler zur Einsicht in die Struktur der Schriftsprache, um so Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten vorzubeugen.“ Und dann etwas später weiter: „Gerade die beim freien Schreiben entstandenen Produkte sind wertvolle Diagnoseinstrumente für die Lehrkraft, die nicht Defizite aufzeigen, sondern den erreichten Entwicklungsstand. So können gezielt Fördermaßnahmen für jedes einzelne Kind festgelegt werden, damit Lernblockaden vermieden werden und späteren Lernstörungen vorgebeugt wird. Da der individuelle Förderbedarf besonders deutlich wird, kann eine optimale Passung zwischen der Aneignungsstufe und dem Lernangebot erfolgen.“ Was dazu die Lehrer in der Praxis sagen, das würde mich interessieren. Ich habe den Eindruck, dass man es mit dieser Methode den Schülern zunächst zwar leichter macht und schnellere Erfolge erzielt, aber das geht wahrscheinlich zu Lasten vieler Kinder, die den Umschwung zur richtigen Schreibweise nicht schaffen.
Ulrike Passauer, Hedwig Rauch, Rita Schaller-Tzschope und Martina Oberhofer schreiben allen, die sich mit dem Thema beschäftigen ins Stammbuch: „Ein sehr wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Ziel beim Lesenlernen ist die Motivierung bzw. die Erhaltung der Freude am Lesen durch ein vielfältiges Angebot an Lesestoff (Seite 204).“ Und das habe ich mir auf die Fahne geschrieben, und ich weiß, dass ich damit nicht alleine stehe!