Petra Küspert, Neue Strategien gegen Legasthenie, Lese- und Rechtschreibschwäche: Erkennen, Vorbeugen, Behandeln, ObersteBrink Eltern-Bibliothek, 3. Auflage 2005
Frau Dr. Küspert ist Diplom Psychologin und zertifizierte Dyslexietherapeutin (bvl), Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbandes für Legasthenie und Dyskalkulie e.V., Lehrbeauftragte an den Universitäten Würzburg und Chemnitz und führt laufend Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte, Erzieherinnen und Kinderärzte durch.
Das Buch enthält interessante Geschichten über Kinder bzw. deren Eltern und ist wirklich lesenswert. Man erfährt viel darüber, wie Kinder Lesen und Schreiben lernen, über Warnsignale und wie man helfen kann. Ich konzentriere mich hier nur auf einen Aspekt und zitiere zunächst einen Satz, der jeden Verantwortlichen zum Nachdenken bringen müsste. "Die Einschulung ist nicht die Stunde Null für das Lesen- und Schreibenlernen." Und dann ein paar Sätze weiter: "In sehr vielen Fällen können wir die Kinder im Vorschulalter sogar spielerisch so fördern, dass ihnen das Schicksal einer Legasthenie erspart bleibt." Das heißt doch, dass die Ursache der Legasthenie das Ausbleiben einer notwendigen und möglichen Förderung der Kinder ist.
Bestärkt wird dieser Gedanke durch einen ausführlichen Bericht über ein Forschungsprojekt an der Universität Würzburg, an dem die Autorin maßgeblich mitgewirkt hat: Dort wurden zwei Gruppen von Vorschulkindern ca. 8 Monate vor der Einschulung gebildet. In einer Gruppe waren 200 Vorschulkinder, die an den Fördermaßnahmen teilnahmen, in der anderen Gruppe, der Kontrollgruppe, waren 150 Kinder, die nicht gefördert wurden. Im Vortest war die Gruppe, die speziell trainiert werden sollte, etwas schlechter beim phonologischem Bewusstsein (Durchschnittswerte, Kontrollgruppe 17 : 15 Fördergruppe). Nach dem Training war die Fördergruppe signifikant besser (19 : 29). Und am Ende des zweiten Schuljahrs sah es so aus: Lesen (77 : 82) und Schreiben (16 : 20). Die Autorin fasst zusammen: "Und das Wichtigste (zum Förderprogramm): Die Kinder in der Trainingsgruppe konnten vor dem Schicksal einer Legasthenie bewahrt werden. Denn in der Trainingsgruppe waren auch Legasthenie-Risikokinder, die im Vorschulalter mittels bestimmter Tests ausgewählt worden waren. Für diese Risikokinder hatte nun die über 90-prozentige Sicherheit bestanden, dass sie eine Legasthenie entwickeln. Tatsächlich konnte man fast alle Kinder mit einer erweiterten Trainingsversion vor diesem Schicksal bewahren." Mit den Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass man eine Legasthenie "entwickeln" kann, muss ich mich noch gesondert beschäftigen.
Das war für mich das Wichtigste aus diesem Buch. Als Betriebswirt frage ich mich, warum man mit den Ergebnissen des zitierten Forschungsprojekts nicht mehr anfängt. Warum, um in der Sprache der Betriebswirtschaft zu reden, steckt man nicht mehr Zeit und Geld in die Qualitätssicherung, sprich Vorbeugung? Siehe Blogbeitrag "Was haben Erfahrungen in einem Softwarehaus mit Lese-Rechschreibschwierigkeiten zu tun?" Erste Politiker haben ein Umdenken angedeutet. Neulich hörte ich Frau Kraft, die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen in einer Talkshow spät am Abend sinngemäß sagen, dass sie trotz des Rückgangs der Schülerzahlen keine Lehrerstellen abbauen will, sondern im Gegenteil mehr in Bildung investieren will um die viel aufwändigeren Nachbesserungen einzusparen. Respekt! Hoffentlich vernehmen wir in Zukunft solche Sätze von unseren Bildungspolitikern öfter. Und hoffentlich sehen wir auch Taten!