Michael Rudolph / Susanne Leinemann - Wahnsinn Schule - Was sich dringend ändern muss - Rohwolt Berlin - ISBN 978-3-7371-0094-6
Nachdem ich von meinem Namensvetter schon öfter in Zeitungsartikeln etwas Interessantes gelesen habe, habe ich mir dieses Buch sofort besorgt. Ich kann es nur empfehlen. Es wird aufgezeigt, und zwar an einleuchtenden Beispielen, was im Schulsystem überdacht werden sollte.
Da geht es zuerst um die Grundlagen, also um Lesen, Schreiben und Rechnen. „Was ist 3 mal 9?“, fragt mein Namensvetter seine Schüler, die neu in seine Berliner Sekundarschule kommen (7. Klasse, da in Berlin die Grundschule 6 Klassen hat). Ergebnis: ca. 1/3 weiß das, 1/3 kommt langsam auf das Ergebnis, und 1/3 hat keine Ahnung. Beim Schreiben ermüden die Schüler schon nach wenig Text, stellt er fest. Und ich denke mir, genauso, wie in den Schulen, mit denen ich zu tun habe. Und natürlich ist auch die weit verbreitete Leseschwäche ein Handicap in allen Schulfächern.
Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Schulinspektion, deren Forderung lautet: „Anstelle von trägem Wissen, das die Schülerinnen und Schüler nur zur Beantwortung von eng begrenzten und bekannten Aufgabenstellungen nutzen können, soll vernetztes Wissen entwickelt werden, das zur Bewältigung vielfacher Probleme angewendet werden kann.“ „Üben, bis die Basis sitzt“, wie der Autor es in seiner Schule praktiziert, wird als Steinzeitpädagogik abgetan, und die guten Ergebnisse, die das Üben aber bringt, werden einfach ignoriert. „Das Hauptaugenmerk auf Leistung zu setzen, sei einfach zu wenig.“, meint der oft zitierte Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann. Auch ich wundere mich seit langem darüber, dass die Ergebnisse der vielen Studien (z.B. Pisa) die Verantwortlichen für die Bildungspolitik ungerührt lassen.
Ein Kapitel ist überschrieben: "Autorität sein, aber nicht autoritär". Der Autor räumt darin mit der vielfach geforderten "Augenhöhe" auf, mit der manche glauben, den Schülern begenen zu müssen. Der Schüler muss als Person respektiert werden. Mit dem Schüler auf Augenhöhe zu sein, "hieße ja, ich durchlebe die Situation zum ersten Mal."
Sehr schön und motivierend sind die vielen Erfolgsgeschichten von Schülern, die, oft auch im Nachhinein, erkannt haben, dass Disziplin, Durchhaltevermögen und Anstrengung lohnen. Ich habe beim Lesen begriffen, warum Lehrer so viel Wert auf Rituale legen. Weil sie nämlich den Schülern Struktur geben, die diese dringend brauchen. Interessant ist, wie in den Schulen des Autors Regelverstöße geahndet werden. Es wird geputzt, Laub gekehrt, Papier aufgesammelt usw. Wer zum Beispiel zu spät kommt, kommt nicht in die Schule rein. Das Tor ist verschlossen. Man muss klingeln, sich im Sekretariat melden, und bekommt dann eine Aufgabe bis zum Beginn der nächsten Stunde.
Ich fand das Buch kurzweilig und informativ, und finde, es sollte von allen, die mit Schule zu tun haben, gelesen werden. Man findet vielleicht Bestätigung der eigenen Erfahrung oder wird nachdenklich, ob die moderne Pädagogik mit der Methode des selbstbestimmten Lernens wirklich immer und für alle passt.
Ein Zitat zum Schluss (Seite 205): „Womöglich sollte die moderne Pädagogik darüber nachdenken, ob Übung nicht viel wichtiger ist als eine riesige Stofffülle. Wäre es nicht angebracht, die wesentlichen Dinge nachhaltig zu vermitteln, damit sie wirklich sitzen, als mit immer neuen Kompetenzen immer neue Oberthemen, immer neuen Schulfächern, immer neuer Architektur zu kommen? Denn alles, was neu hinzukommt, führt dazu, dass für die Basis weniger Zeit bleibt. Und diese Basis – Lesen, Schreiben, Rechnen – ist bekanntermaßen häufig viel zu fragil.“
Dazu passend: Aktuell stellt eine Sonderauswertung der PISA-Studie 2018 fest, dass mehr als die Hälfte der 15 Jahre alten Schüler Probleme hat, Meinungen und Fakten auseinanderzuhalten. Die Schlussfolgerung ist klar: Ein Fach Medienkompetenz muss her. Aber ohne ausreichende Lesefertigkeit macht es wenig sinn, Medienkompetenz zu lehren.