Gefährliche Strategie: die Ratetechnik

Die Ratetechnik entwickelt sich ziemlich früh im Leselernprozess, und zwar immer dann, wenn schneller gelesen wird, als es zu der bis dahin erworbene Fertigkeit passt. Meist werden die Kinder zum schnelleren Lesen – pädagogisch falsch – aufgefordert. Die Geschwindigkeit kommt nämlich von allein, und zwar durch – nur durch – häufiges Lesen.

Fatal ist, dass intelligente Kinder mit der Strategie der Ratetechnik am Anfang, mit leichten Texten, Erfolge erzielen.

Je später man eingreift, desto schwieriger ist es. Bei mir gibt es Übungen, bei denen genau hingeschaut werden muss. „Du bist der Lehrer, korrigiere die Fehler!“, ist eine davon. Gern arbeite ich auch mit den „Sätzen mit Knax“. Auch der „Wörterdetektiv“ passt hier.Wichtig ist es, die Kinder auf ihre Spekulationstechnik aufmerksam zu machen. „Du hast gut mitgedacht, aber ungenau gelesen!“, sage ich oft zu meinen Schülern.

Übung – quasi ein Test

Dieser Text enthält bewusst Formulierungen, die oberflächlich gelesen in die Irre führen. Hier wird zum Spekulieren verführt. 

Drucken Sie sich den Text aus. Machen Sie sich bei Abweichungen Notizen. Vergleichen Sie unten mit den gekennzeichneten Lesestolperfallen.

Der Junge schaut aus dem Fenster und blickt hinauf zum Himmel. Ein großer schwarzer Vogel folgt über dem Wald einem Vogelschwarm. Der Junge schaut jetzt in den Garten und erspäht ein paar Mäuse. Die Mäuse rennen vor der Katze davon. Um diese Jahreszeit gibt es immer viele Feuer im Wald. Es ist noch früh am Morgen. Die Sonne spitzt schon über einen Waldbrand. Der Junge denkt, dass es ein schöner Tag werden wird. Heute bekommen die Schüler ihren Aufsatz retour. Die Ergebnisse der Klasse sind wichtig. Man nimmt an einem Wettbewerb teil. Es ist kein Geld mehr in der Klasse, die Klassenkasse ist leer. Man will unbedingt den ersten Platz haben. Der erste Preis ist nämlich eine Reise nach Berlin, in die Hauptstraße dieser Stadt. Dort gibt es ein Jugendhostel, wo die Klasse über Nacht bleibt. Ob die Aufsätze gut genug sind? Es ging um ein Spiel, bei dem ein Spiegel eine Rolle spielte. Im Spiegel verlief das Spiel seitenverdreht. Der Spiegel war eine zweite Welt. Das Geschehen verselbstständigte sich. Der Junge und die ganze Klasse werden gebannt auf den Lehrer blicken.

Der Junge schaut aus dem Fenster und blickt hinauf (hinaus) zum Himmel. Ein großer schwarzer Vogel folgt (flog) über dem Wald einem Vogelschwarm. Der Junge schaut jetzt in den Garten und erspäht (erblickt) ein paar Mäuse. Die Mäuse rennen vor der Katze (den Katzen) davon. Um diese Jahreszeit gibt es immer viele Feuer im Wald. Es ist noch früh am Morgen. Die Sonne spitzt schon über einen Waldbrand (Waldrand). Der Junge denkt, dass es ein schöner Tag werden wird. Heute bekommen die Schüler ihren Aufsatz (ihre Aufsätze) retour (zurück). Die Ergebnisse der Klasse sind wichtig. Man nimmt an einem Wettbewerb teil. Es ist kein Geld mehr in der Klasse (Kasse), die Klassenkasse ist leer. Man will unbedingt den ersten Platz (Preis) haben. Der erste Preis ist nämlich eine Reise nach Berlin, in die Hauptstraße (Hauptstadt) dieser Stadt. Dort gibt es ein Jugendhostel (Jugendhotel), wo die Klasse über Nacht bleibt (übernachtet). Ob die Aufsätze gut genug sind? Es ging um ein Spiel, bei dem ein Spiegel (Spieler) eine Rolle spielte. Im Spiegel verlief das Spiel seitenverdreht (seitenverkehrt). Der Spiegel war eine zweite Welt (Wahl). Das Geschehen verselbstständigte (veränderte) sich. Der Junge und die ganze Klasse werden gebannt (gespannt) auf den Lehrer blicken.

Beispiele aus meiner Leseförderung

Probieren Sie die Sätze mit Schülern und vergleichen Sie danach das Lesebeispiel!

Aus einem Witz über Musiker

Drei Musiker betreten ein Musikgeschäft. „Wir hätten gern die rote Trompete, die an der Wand hängt.“

Drei Musiker betreten ein Musikgeschäft. „Wir hätten gern die roten Trompeten, die an der Wand hängen.“

Klar: Drei Musiker brauchen nicht nur eine Trompete!

Aus einem Artikel über Murks in elektrischen Geräten

Es gibt Geräte, deren Akkus sich nach kürzester Zeit nicht mehr aufladen lassen.

Es gibt Geräte, deren Akkus sind nach kürzester Zeit leer.

Da spielt die Erfahrung mit. Der Schüler meinte zu wissen, um was es da geht.

Aus einem Artikel über einen Marsroboter

Diese Wetterstation wird neue Erkenntnisse bringen.

Diese Weltraumstation wird neue Erkenntnisse bringen

Wenn es um den Mars geht, denkt man halt nicht an das Wetter, sondern an den Weltraum.

Frage zu einem Prozess

„Wie lange hat sie denn Verdächtige verhört?“

„Den“ und „denn“ werden oft vertauscht. Da herrscht große Unsicherheit. Hier wurde aber zur zwar falschen Konjunktion wenigstens das Nomen entsprechend angepasst.

„Wie lange hat sie den Verdächtigen verhört?“

Bericht über eine Nordseeinsel

Doch im Laufe der Jahre haben die Meeresströmung und der Wind immer mehr Sand angespült.

Doch im Laufe der Jahre haben die Meeresströmungen und der Wind immer mehr Sand angespült.

Wenn ein Nomen in der Mehrzahl steht, werden oft weitere Nomen im Satz in der Mehrzahl gelesen. Hier kann auch „haben“ die Ursache sein.

Noch einmal aus dem Bericht über die Nordseeinsel

Jetzt ist in der Nordsee vor der Küste Schleswig Holsteins eine richtige Insel entstanden.

Jetzt ist in der Nordsee vor der Küste Schleswig Holsteins eine riesige Insel entstanden.

Ja, wenn Wörter überglüssig sind, wie hier das Wort „richtige“, dann bessert ein guter Schüler den Text aus. 

Aus einem Bericht über das Lernen bei Schülern

Wer morgens geübt hatte und dann wach geblieben war, schnitt schlecht ab.

Wer morgens geübt hat und dann wach geblieben war, schnitt schlechter ab.

Die Zeitform wird oft falsch gelesen. Bei Witzen fällt das immer wieder auf. Die werden in der Gegenwart erzählt, der Schüler setzt sie in die Vergangenheit. Die Vergangenheitsform mit „hatte“ war meinem Schüler nicht geläufig.

Bei einem Vergleich muss die Steigerung her, dachte mein Schüler.

Mein Lieblingsbeispiel aus einem Bericht über einen Besuch im Tiergarten mit Übernachtung

Stell dir vor, du liegst im Bett in einem Baumhaus.

Stell dir vor, du liegst im Bett und schläfst.

Klar, was soll man auch sonst im Bett machen?