Wie kam ich zur Leseförderung?

Es ist ein schönes Gefühl, wenn man nach dem Arbeitsleben nicht nur sich selbst „pflegt“, sondern auch noch etwas für die Gesellschaft tun kann.

Im Ruhestand habe ich schnell gemerkt, dass meine Pläne, das Kochen zu lernen und ein Marimbaphone zu spielen, nicht zu mir passen. Ich musste eine Beschäftigung finden, bei der ich es mit Menschen zu tun hatte. Das war es, was mir während meines Berufsleben so viel Freude gemacht hat. Deshalb habe ich auch die Einladung der AktivSenioren Bayern e.V. angenommen und mir deren Programm durch den Kopf gehen lassen. Besonders die Möglichkeit, an Mittelschulen mit Schülern Bewerbungstrainings zu machen, hat mich gereizt.

Das Schockerlebnis

Mein erster Einsatz für die AktivSenioren war dann allerdings ein Schockerlebnis. Ich bekam beim Bewerbungstraining an einer Mittelschule eine Schülerin zugeteilt, die die Anzeige, die ich für Sie im Internet herausgesucht hatte, nicht lesen konnte.

Ich war erschüttert. Ich wandte mich an die Lehrerin und fragte, was mit dieser Schülerin los sei. Legasthenikerin sei sie, sagte mir die Lehrerin. In Mathe wurden ihr die Aufgaben vorgelesen. Ich kannte zwar das Wort Legastheniker, aber ich hatte nie praktisch damit zu tun. Ich dachte, das kann so nicht bleiben, und bot, im unwiderstehlichen Drang zu helfen, an, dieser 15-jähringen Schülerin das Lesen beizubringen. Ich wollte nicht glauben, dass jemand nicht lesen lernen kann. Warnungen schlug ich in den Wind.

Die Ernüchterung

Wir lasen zunächst aktuelle, aber einfache und kurze Artikel unserer Regionalzeitung, besser gesagt, wir versuchten es. Es war ernüchternd. Ein Gestotter, viele, für mich völlig unverständliche Leseergebnisse, überhaupt kein Textverständnis und ein eingeschränkter Wortschatz. Aber die junge Frau war motiviert. Nach zwei Monaten konnte ich nicht den geringsten Fortschritt feststellen. Lediglich beim Lesen isolierter kurzer, einfacher Wörter war eine leichte Verbesserung festzustellen. Das war ein gewisser Hoffnungsschimmer und ein Ansatzpunkt.

Gedanken eines Quereinsteigers

Bei der Lese- und Rechtschreibförderung bin ich Quereinsteiger. Mein Berufsleben habe ich fast ausschließlich bei der DATEV eG verbracht, in der ich 1968 als frischgebackener Diplom-Betriebswirt in der Betriebswirtschaftlichen Abteilung als Sachbearbeiter anfing. Ein bisschen stolz bin ich schon darauf, dass ich fast von Anfang an am Aufbau dieses einmaligen Unternehmens mitwirken konnte. Besonders die Rechtsform der Genossenschaft hat es mir leicht gemacht, mich voll zu engagieren. Schließlich wusste ich immer, für wen ich schaffe. Die Beziehungen zu den Mitgliedern lag mir immer am Herzen.

Von 1991 bis zu meinem Ausscheiden im Jahr 2008 war ich Vorstand für Service und Vertrieb sowie stellvertretender Vorstandsvorsitzender.

Als Quereinsteiger zog ich natürlich Parallelen zu meinen bisherigen Erfahrungen. Im neuen Gebiet war ich von keiner Theorie „belastet“. Ich habe zuerst praktische Erfahrungen gesammelt und bin mit gesundem Menschenverstand zu Werke gegangen. Ich war von dem Willen besessen, diesem Mädchen das Lesen beizubringen. Mit der Theorie habe ich mich erst nach und nach beschäftigt.

Bei meiner praktischen Arbeit bin ich sehr schnell über die für die Leseförderung ungeeignete Silbenbildung in den Schulbüchern gestolpert. Ich habe die Silbenbildung im Laufe der Zeit immer mehr an den Sprachrhythmus angepasst, was mir zunächst Unverständnis von Lehrpersonen und anderen Trainern eingebracht hat. Inzwischen ist meine Silbenmethode akzeptiert. Und sie wird sich durchsetzen, denn es macht keinen Sinn, einem Schüler Silben zu präsentieren, die er anders als gezeigt lesen soll. Beispiel: Jun-ge soll wie Jung-e gelesen werden. Ich reiße bei meiner Silbenkennung keine Laute auseinander. Siehe dazu auch meinen Blog.

Schon ganz zu Anfang unserer Übungen hatte ich der Schülerin erzählt, dass jeder andere Talente und Begabungen hat. Und es ist ganz normal, wenn man sich auf einem Gebiet schwerer tut als andere Menschen. Aber nicht lesen zu können, das benachteiligt einen Menschen sein ganzes Leben. Zwar gibt es heute viele technische Hilfsmittel, zum Beispiel Scanner, die den markierten Text in Sprache übertragen, aber das löst längst nicht alle Probleme. Oft heißt es, Legastheniker hätten auf anderen Gebieten besondere Talente. Aber es ist keineswegs so, dass jeder Legastheniker auf irgendeinem anderen Gebiet automatisch zu besonderen Höchstleistungen fähig ist. Ich halte das für einen schönen „Trost“. Viele Menschen, wahrscheinlich die allermeisten, die auf irgendeinem Gebiet Höchstleistungen erbringen, können auch sehr gut lesen.

Meine Erfahrung lehrt mich, Dinge, die zu erklären sind, zu vereinfachen. Die Methode, den Schwierigkeitsgrad zu minimieren, brachte den Durchbruch.

Quereinsteiger und Theorie

Meine frühen praktischen Erfahrungen als Lesepate – vor der Beschäftigung mit der Theorie – haben dazu geführt, dass ich das, was ich in der Literatur las oder in Vorträgen hörte, mit dem abglich, was ich in der Praxis erlebte. Weitverbreitete Theorien, wie die, dass Legastheniker das Lesen nie richtig lernen werden, habe ich negiert, weil ich in meiner Praxis gesehen habe, dass diese Meinung nichts anderes als eine Entschuldigung für nicht geleistete Hilfe ist. Außerdem habe ich immer wieder von Wahrnehmungsstörungen gelesen. Aber das, was Frau Dr. Astrid Kopp-Duller in ihrem Buch „Der praktische Ratgeber für Eltern“ dazu schreibt, habe ich als Ratetechnik und als zu schnelles Lesen erfahren und deshalb auf diese Theorie gar nichts gegeben. Bei Frau Prof. Dr. Renate Valtin habe ich gelesen: „Lesen lernt man nur durch Lesen!“ Das hat mich überzeugt, und deswegen habe ich mich nie mit Übungen aufgehalten, die mit dem Lesen nichts direkt zu tun hatten, zum Beispiel mit der Kinesiologie. Viel profitiert habe ich von Frau Dr. Thomé und Herrn Prof. Thomé. Deren wissenschaftliche Erkenntnisse haben mich in meiner Arbeit weitergebracht. Und von Tests zu einem Stichtag, deren Ergebnisse ein ganzes Leben gelten sollten, wie bei der Legasthenie, hielt und halte ich gar nichts, denn das Gehirn ist nicht statisch, sondern entwicklungsfähig. Das zeigt zum Beispiel auch eine Untersuchung, von der ich am 6.02.2019 in einem Vortrag von PD Dr. Kristina Moll bei der LMU gehört habe. Dort hat man in einem Projekt nachgewiesen, dass man bei Erstklässlern mit dreimal wöchentlich 20 Minuten extra Übungen (z.B. Buchstaben-Laut-Zuordnung, Silbenlesen) in sechs Wochen die Rückstände leseschwacher Schüler deutlich verringern kann. Aber, selbst Selbstverständlichkeiten, die sogar wissenschaftlich belegt wurden, führen nicht zu Veränderungen im Schulbetrieb.

„Einfach“ lesen

Ich dachte am Anfang, dass ich mit einer Achtklässlerin zum Üben Artikel aus der Tageszeitung nehmen müsste. Nach zwei Monaten stellte ich das Training um. Wir gingen zurück auf Los, auf die Buchstaben- und Silbenebene.

Und ich habe selbst ganz einfache Texte für meine Schülerin geschrieben bzw. Texte aus einer Kinderzeitschrift für sie bearbeitet. Wir haben Wörter in Silben zerlegt.

Ich habe viele Übungen mit PowerPoint angelegt und dabei auch die benutzerdefinierte Animation eingesetzt, mit der man sehr schön Übungen erstellen kann. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich erkannt habe, dass meine Schülerin, im Bemühen, schneller zu lesen, häufig Wörter zu erraten versucht. Ich habe dann Texte mit Fantasiewörter erfunden und vor dem Lesen angekündigt, dass diese Wörter nicht erraten werden können.

Mit solchen Übungen habe ich meine Schülerin „gezwungen“, sich die Zeit zu nehmen, die Wörter genau „zu entziffern“.

Ich bat sie bei Lesefehlern geduldig, das Wort erneut zu probieren. Und viele Wörter musste ich ihr mehrmals vorsprechen. Mein Gefühl war, dass die Fehlerhäufigkeit abnahm, wenn auch nur geringfügig. Und dann kam ganz plötzlich der Durchbruch. Mit jeder Übungsstunde wurde sie sicherer. Sie hatte sich eine neue Lesetechnik angeeignet. Sie hatte aber auch den unbedingten Willen, endlich lesen zu können. Heute weiß ich, dass viele Schüler die gleichen Leseprobleme haben, allerdings in ganz unterschiedlichen Ausprägungen. Meine erste Schülerin bestand den schriftlichen Einstellungstest eines großen Unternehmens und wurde Mechatronikerin. Und ich hatte eine Aufgabe für meine nachberufliche Zeit gefunden.

Ein neues Gebiet erschließen

Inzwischen habe ich mich stärker mit dem Thema Legasthenie beschäftigt. Ich musste lernen, dass Legasthenie offiziell für eine Krankheit gehalten wird, dass Legasthenie als Behinderung anerkannt ist und dass es jede Menge Informationen widersprüchlicher Art in der Literatur gibt. Ich habe viel Fachliteratur studiert, Vorträge und Kongresse besucht. Und ich habe gerade am Anfang bis zu 15 Schüler pro Woche gefördert, um Erfahrung zu sammeln. Inzwischen habe ich mich mit mehr als 120 Schülern beschäftigt. Leider wird die Zahl der Schüler mit Leseschwäche immer größer. Zu Beginn meiner Leseförderung waren es 11 Prozent, heute sind es 25 Prozent.  Man müsste also etwas tun. Als ehemaliger Manager weiß ich, dass „man müsste“ gar nichts bewirkt. Deswegen mache ich etwas und habe bei den AktivSenioren Bayern e.V. in der Region Mittelfranken das Projekt „Lesekoch“ gestartet. Im September 2024 habe ich meinen Internetauftritt erneuert:

Meiner Initiative liegen Erfahrungen zugrunde, die ich im Berufsleben als Manager erworben habe. Einer meiner Grundsätze ist: Probleme müssen an der Wurzel angepackt werden. Das Kurieren der Symptome ist nicht nur zeitlich aufwendiger, sondern auch teurer. Deshalb ist es wichtig, mit der Leseförderung so früh wie möglich zu beginnen. Aber es ist nie zu spät, wie mein Einstieg in die Leseförderung zeigt. Der jungen Frau aus der Mittelschule habe ich ein wunderbares Hobby zu verdanken. Mein Glück war, dass meine erste Schülerin den unbedingten Willen hatte, endlich lesen zu können.

Sehr hilfreich ist für mich die Mitgliedschaft im Präventionsverein 1-2-3 e.V. des Landkreises Fürth, über den ich Zugang zu Fachleuten aus dem Schulbetrieb habe.

Warum heißt meine Initiative „Der Lesekoch“?

Im Ruhestand wollte ich eigentlich das Kochen lernen. Dieser Wunsch ging im „Lesekoch“ auf. Außerdem meine ich, dass meine Methode so etwas wie ein Kochrezept ist.

Warum ausschließlich ehrenamtlich?

Ich habe viel gearbeitet und von meinem Erfolg und dem des Unternehmens, für das ich arbeiten durfte, auch profitiert. Jetzt kommt es mir darauf an, anderen ehrenamtlich zu helfen. Deshalb sind meine Übungen kostenlos. Was mein Buch betrifft, so stuft das Finanzamt es als Liebhaberei ein, da die Kosten bei Weitem nicht gedeckt werden. Für einige meiner Leistungen berechnen die AktivSenioren Bayern e.V. eine Pauschale zur Finanzierung der Vereinskosten.

Gut vernetzt

Ich arbeite zwar nur ehrenamtlich, bin aber Mitglied in einem Netzwerk mit professionellen Therapeutinnen und Trainerinnen. In diesem Kreis bilden wir uns ständig weiter und tauschen Erfahrungen aus.

Anerkennung

Ehrenwertpreis der Stadt Nürnberg – Lesen mit Rezept – Bericht

Bundesverdienstkreuz 1. Klasse – Bericht

Ruhestand?

Der Ruhestand wird nur dann zum Problem, wenn es einer ist. Die Lese- und Rechtschreibförderung ist mein zweiter Beruf geworden, der mich munter hält und keine Langeweile aufkommen lässt. An früher denke ich immer gern, manchmal mit Blick auf liebgewordene Erinnerungsstücke. Gelegentlich wünsche ich mir, ich hätte so viel Einflussmöglichkeit wie während meiner bezahlten Arbeitszeit. Aber ich freue mich über jeden Fortschritt meiner Schüler und, wenn ich von Nutzern meiner Übungen und Besuchern meiner Internetseite ein Feedback erhalte.

Bild mit Lesepatinnen des Projektes „Schüler trainieren Schüler“ aus der Festschrift 40 Jahre AktivSenioren Bayeren e.V.