Das Ärgernis Rechtschreibung oder die Anlauttabelle
Mit „Das Ärgernis Rechtschreibung“ ist ein Kapitel in dem Buch von Jürgen Reichen (1), dem Erfinder der Anlauttabelle, überschrieben. Vielen ist die Rechtschreibung heute so gleichgültig wie sie auch Jürgen Reichen war. Man braucht bloß in Internetforen zu recherchieren, SMS-Nachrichten zu lesen, oder zu schauen, was die Schule treibt. Dort wurde nämlich vor Kurzem das Diktat abgeschafft, wohl kaum, weil die Schüler so gut waren. Auch Berichte aus den Universitäten lesen sich in diesem Sinn. „Wie sollen Lehrkräfte vermitteln, was sie selbst nicht können?“, schreibt Phillipp Frohn vom Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen in einem Blockbeitrag (2). Viele vermuten, dass die Methode von Jürgen Reichen „Lesen durch Schreiben“ dafür verantwortlich zu machen sei.
Auch ich bin der Meinung, dass das Schreiben nach Gehör einen wesentlichen Beitrag für den Rückgang der Rechtschreibkompetenz leistet. Einige Bundesländer, z.B. Baden-Württemberg, haben diese Methode jetzt verboten. Dagegen wehrt sich der Grundschulverband (3) (4). Es ist ja auch ein Dilemma, denn die Grundschullehrer lernen genau diese Methode von überzeugten Professorinnen und Professoren. Die behaupten, dass es die sogenannte Rechtschreibkatastrophe gar nicht gibt.
Wo liegt das Problem? Es liegt in der Zielhierarchie der Lehrpläne. Was steht da genau, zum Beispiel im LehrplanPlus in Bayern?
„In der Grundschule erhalten die Schülerinnen und Schüler durch Unterstützung (z. B. von der Lehrkraft oder Mitschülerinnen und Mitschülern) bereits ab Schulbeginn die Möglichkeit, eigene kleine Texte (Wörter, Sätze) zu verschriften, um ihnen die Bedeutung von Schrift für die Kommunikation eigener Erfahrungen anschaulich zu machen und eine grundlegende Schreibmotivation aufzubauen. Die Lehrkraft ergänzt die Texte der Schülerinnen und Schüler im Anfangsunterricht durch die regelgerechte Schreibweise und zeigt so die Unterschiede zwischen der Schreibung des Kindes und der rechtschriftlichen Schreibweise auf. Sie wirkt von Anfang an darauf hin, dass normgerechte Schreibungen nach den im Lehrplan vorgesehenen Prinzipien systematisch eingeübt werden.“
Der Webfehler des Lehrplans steckt im ersten Satz. Wer gleich zu Beginn der Schulzeit eigene Texte schreiben soll, der braucht dafür die Anlauttabelle von Jürgen Reichen. Der Schüler sagt sich praktisch ein Wort vor, hört verschiedene Laute und sucht die Buchstaben aus der Anlauttabelle heraus. Diese kritzelt bzw. malt er dann nach. Wenn kein Dialekt gesprochen wird, stimmen die Ergebnisse nur bei lautgetreuen Wörtern, wie beim Wort Kante. Wer mal versucht, einen Text nur mit lautgetreu zu schreibenden Wörtern zu erstellen, wird sehen, dass das sehr schwer ist. Typisch sind Wörter wie Sonne und Hund, die lautgetreu als Sone und Hunt verschriftet werden, oder Himmel als Himl. Weitere Beispiele: Vase = Wase, Saal = Sal. In der Anlauttabelle gibt es keine Unterscheidung zwischen langen und kurzen Vokalen. An denen hängen aber viele Rechtschreibregeln. Bis vor kurzem waren die Lehrer angehalten, die Schreibung der Schüler in dieser frühen Phase nicht zu korrigieren. Das ist jetzt anders. Aber es bleibt bei der falschen Reihenfolge. Statt zuerst richtig schreiben zu lernen, schreibt man zunächst falsch und schiebt die Rechtschreibregeln hinterher, was bei der Korrektur der frei geschriebenen Texte ja nur unsystematisch erfolgen kann. Aber das Kind lernt tatsächlich sehr früh die Bedeutung der Schriftsprache und kann dabei kreativ sein, wie gewünscht.
Zum nächsten Punkt im LehrplanPlus:
„Die Schülerinnen und Schüler schreiben anfangs eine unverbundene Schrift (Druckschrift). Sobald sie motorische Sicherheit und Routine im Lesen und Schreiben erlangt haben, erfolgt die Einführung einer verbundenen Schrift (Vereinfachte Ausgangsschrift oder Schulausgangsschrift), mit der Schreibtempo und Schreibflüssigkeit erhöht werden. Für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gelten die Regelungen in den entsprechenden Lehrplänen.“
Die Druckschrift wird zuerst gelernt! Das ist die zwingende Folge der Verwendung der Anlauttabelle. Für die Schreibschrift, auf die es ankommt, müsste man diese erst einmal erlernen. Dass sich die falsche Lernreihenfolge auf die Qualität auswirkt, sieht man deutlich an den Schriftbildern, die viele Kinder erzeugen. Nicht zuletzt wird an der Schreibschrift ständig herumexperimentiert. Man will es den Kindern immer einfacher machen, senkt dafür das Niveau und raubt den Kindern die Möglichkeit, eine flüssige Schrift zu entwickeln. Die Handschrift ist das Handwerkszeug in der Schule (5). Jeder Handwerker legt Wert darauf, dass er und seine Gesellen das Handwerkszeug beherrschen. Für viele Schüler ist der Umgang mit ihrem Handwerkszeug eine Plage. Wer sich plagt, konzentriert sich auf die Tätigkeit, die ihm schwerfällt. Beim Schreiben denken die Kinder deswegen oft nicht an die Rechtschreibregeln, die zudem viele Ausnahmen haben.
Der Lehrplan macht mit dem frühen Schreiben eigener Texte den zweiten Schritt vor dem ersten. Das ist in keiner Disziplin optimal. Ein Zurück ist schwierig. Es müsste mehr geschehen, als die Korrektur des nach Gehör geschriebenen Textes. Die Reformpädagogen werden sich wehren, wie man am Protest des Grundschulverbandes sieht. Es müsste nämlich einfach mehr geübt werden, bevor die ersten eigenen Texte geschrieben werden.
- Jürgen Reichen, Hannah hat Kino im Kopf, Heinevetter Verlag Hamburg, Seite 114 – siehe Fachliteratur.
- faz.net — 2018-01-26 von Philipp Frohn
- https://bildungsklick.de/schule/meldung/wie-kinder-recht- schreiben-lernen/ Interview mit Frau Prof. Erika Brinkmann
- https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.verbot-von-schreiben-nach-gehoer-grundschulverband-ansage-inhaltlich-voellig-untragbar.d3fce458-519e-4a87-a5f3-4ababe111ef0.html
- Maria-Anna Schulze Brüning, Stephan Clauss – Wer nicht schreibt, bleibt dumm – Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen – Piper Verlag 2017 – Rezension unter Fachliteratur
4 Kommentare
Freitag, 09 März 2018 07:52 gepostet von Siegbert Rudolph
Zum Kommentar von Wi Li: Vielen Dank für Ihren Kommentar. Möglicherweise war Jürgen Reichen charismatisch. Auf jeden Fall aber war er ein Scharlatan. Von reformpädagogischem Gesülze eingelullt, haben viele übersehen, welche elementaren Fehlschlüsse Reichen gezogen hat. So glaubte er, dass man Lesen nicht durch Lesen lernen könne. Er glaubte, dass man das Schreiben so wie das Sprechen lernen könne. Schreiben ist aber eine Kulturtechnik. Er beachtete nicht den Grundsatz, dass Umlernen schwerer ist als Neulernen. Bei seiner Methode lernen die Kinder zuerst die Druckschrift und sollen dann auf eine Schreibschrift umlernen. Das sind nur ein paar Beispiele. Orthographie würde ich nicht als Snobismus bezeichnen. Das ist ja genau das, was Reichen auch meint. Dass die Reichen-Methode gerade für die Kinder, die etwas hinterherhinken, besonders schädlich ist, das regt auch mich auf. – Siegbert Rudolph
Dienstag, 06 März 2018 14:37 gepostet von Wi Li
Es ist nicht nachvollziehbar, wie die Anlauttabelle jemals zur Standardmethode werden konnte. Herr Reichen muss ein charismatischer Mann gewesen sein. Ein wisschenschaftlich plausibler (wenn schon nicht nachgewiesener) Vorteil wurde meiner Kenntnis nach nie dargelegt. Insofern sind wohl Generationen von Kindern Opfern reiner Ideologie geworden, ein Skandal.
Bezüglich der Folgen möchte ich Ihre Kritik aber mildern. An den Unis wurde über das Unvermögen der Jungen immer schon geschimpft. Zudem ist Orthographie oftmals nur Zeichen von Snobismus (Abgrenzung nach unten) und sollte daher nicht überbewertet werden.
Normalbegabte Kinder, mit denen viel gelesen wurde und die selbst gern lesen, lernen mit jeder Methode korrekt schreiben. Richtig problematisch ist die Anlauttabelle mal wieder vor allem für die Schwächsten: Kinder mit LRS und Kinder, die zuhause keine ausreichende Förderung erhalten. Das ist der Punkt, der mich aufregt.
Mittwoch, 14 Februar 2018 21:28 gepostet von K. Tan.
Sie treffen den Nagel auf den Kopf und sprechen mir aus der Seele! Genau diese Probleme beobachte ich seit längerer Zeit bei meinem Zweitklässler:
Unregelmäßige Druckschrift, Schön-Schrift-Übungsheft ist zu 2/3 unbearbeitet geblieben!!!
Falsch eingeübte Wörter, weil sie zuerst nach Gehör geschrieben wurden, werden nur mühsam zu Hause erlernt.
Er konzentriert sich entweder auf die Schrift ODER die Rechtschreibung. Seine Lehrerin findet die Schrift aber gar nicht schlimm. Sie wäre noch! in Ordnung. Unsinn!!!
Sie haben vollkommen Recht.
Auch in unserer Schule wird der zweite Schritt zuerst getan. Und das hat dazu geführt, dass wir nun zu Hause täglich 1-1,5 Stunden zusätzlich üben: lesen und schreiben
Montag, 12 Februar 2018 19:11 gepostet von P. Zur.
Sie schreiben mir aus dem Herzen!!!!
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