Lesen, lesen – ist´s gewesen?
Die Frage – frei nach Johann Wolfgang von Goethe formuliert – klingt vielleicht übertrieben. Aber nicht für fast jeden fünften Deutschen. In Nürnberg gibt es statistisch 74.000 funktionale Analphabeten, wie die FN am 26. Oktober 2013 schreibt. Funktionale Analphabeten, das sind Menschen, die die Buchstaben zwar kennen, die aber die Wörter oft nicht lesen oder den Sinn von Sätzen nicht verstehen können. Vielen Schülern wird eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eine Legasthenie bescheinigt. Dafür, dass immer mehr Menschen Leseschwierigkeiten haben, gibt es einen Grund. …..
Viele Schüler fangen zu bald an, schnell zu lesen. Zuerst muss man genau lesen können. Dann kommt die Geschwindigkeit von alleine. Wenn man die Wörter noch nicht richtig entschlüsseln kann und zu schnell liest, dann fängt man aufgrund von erkannten Wort- oder Satzfragmenten an, zu raten bzw. zu spekulieren, was da stehen könnte. Die Bandbreite reicht von unverständlichem Kauderwelsch bis zu geschliffenen Phantasieformulierungen. Beispiel für grammatikalisch vollendete Lesespekulation:
Originalsatz:
In den Bergen gibt es Hunde, die unter Lawinen verschüttete Menschen suchen.
Gelesen:
In den Bergen gibt es Hunde, die unter Lawinen schnüffeln.
Einmal hatte ich es mit einem Viertklässler zu tun, der behauptete, sehr gut lesen zu können. Ich bot ihm an, mit ihm Witze zu lesen. Bei meinen Übungen mit Witzen steht der letzte Satz des Witzes, also der mit der Pointe, in einer Tabelle und muss zugeordnet werden. Damit wird das Textverständnis geübt bzw. kontrolliert. Der Viertklässler sagte mir, dass ihn Witze nicht interessieren. Das hat mich gewundert. Als er mir dann einen Artikel über Vulkane vorlas, war das Tempo flüssig und die Grammatik fehlerfrei. Aber, der Text stimmte oft nur ungefähr mit dem überein, was geschrieben stand. Klar: Die Pointe der Witze kann dieser Schüler bei seiner Lesetechnik gar nicht erkennen. Deswegen mag er Witze auch nicht lesen.
Was kann man also tun? Langsamer lesen! Ich mache das mit dem Computer. Man kann auch mit dem Schüler üben, in dem man die Geschwindigkeit mit einem Leselineal oder dem Finger steuert. Bei meinen Übungen gibt es eine Variante, bei der Buchstabe für Buchstabe in einer dem Schüler angemessenen Geschwindigkeit am Bildschirm erscheint. Gelesen wird das Wort erst, wenn es vollständig am Bildschirm steht. Die Verbesserung ist frappierend. Auf diese Weise gewinnt der Schüler Zuversicht und Sicherheit. Meist werden nur sehr schwierige, unbekannte Wörter nicht richtig gelesen.
Die Wissenschaft spricht auch die Steuerung der Blicksprünge an, die die Ursache für die Leseschwierigkeiten sein könnte. Bei meinen Übungen mit der zeichen- oder wortweisen Darstellung am Bildschirm konzentriert man sich automatisch auf das zu lesende Wort. Rechts davon steht einfach nichts, was ablenken könnte. Deshalb werden hier einfache Wörter, wie z.B. „der, die, das, was, sein, klein u.ä.“ immer richtig gelesen. Beim Lesen des vollständig angezeigten Textes werden sie aber „angepasst“.
Beispiel, Originalsatz: „Das Dinner, das serviert wurde …“.
Gelesen: „Der Diener, der servierte …“.
Das Wort „Dinner“ ist dem Schüler zu schwer gewesen, es wurde durch „Diener“ ersetzt. Die dazu nicht passenden Wörter wurden passend gemacht. Dieser Fehler passiert mit großer Sicherheit nicht, wenn ganz langsam gelesen wird. Möglicherweise dauert es aber, bis das Wort „Dinner“ richtig gelesen bzw. verstanden wird. Jemand, der gut lesen kann, der merkt, dass der Artikel „das“ nicht zum Wort „Diener“ passt und korrigiert sich selbst vor dem Aussprechen oder danach. Beispiele von Mittelschülern, deren Lesebemühungen oft in einem unverständlichen Gestammel enden, bringe ich besser nicht.
Ganz wichtig: Leseförderung gehört in die Grundschule. Je früher man hilft, desto besser. Auch wichtig: Lesen hat man noch nie nur in der Grundschule gelernt. Am Ende der Grundschule sollte man aber auf jeden Fall gut lesen können. Andreas Franke, der Autor des Beitrags vom 26. Oktober 2013 in den FN meint aber hoffentlich nicht das, was er schreibt, wenn er die schlimmen (leider sehr realen Beispiele) mit dem Niveau von Grundschülern gleichsetzt. Am Ende der Grundschule sollten alle Schüler richtig lesen und schreiben können. Wenn alle Grundschüler seinen Beispielen entsprechend lesen oder schreiben würden, hätten wir bald 100 Prozent funktionale Analphabeten. Seine Beispiele passen für Grundschüler, die die Basistechniken Lesen und Schreiben noch nicht richtig beherrschen. „Immer bisen suschpet“ kann ein Erst- oder Zweitklässler schreiben, und wird dann möglicherweise noch belobigt, wenn die Geschichte, die er geschrieben hat, gut ist. Der Lehrplan macht da den zweiten vor dem ersten Schritt. Die Kinder sollen Freude an der Schriftsprache finden. Da kann man, so meint die Bildungspolitik, sie nicht mit Rechtschreibregeln triezen. Warum aber sollen die Kinder Geschichten schreiben, wenn sie es noch nicht können? Und weiter: Wenn der Lehrer oder die Eltern verlangen, das Kind solle doch etwas schneller lesen, dann wird hier der zweite Schritt zu früh gemacht. Gemach, gemach, kann ich da nur sagen. In der Grundschule kommt es nicht auf Effizienz im Sinne von Schnelligkeit an, sondern auf Effektivität. Die kann nur durch Gründlichkeit erreicht werden. Die Lehrer tun ihr Bestes. Was wir tun können, ist außerschulische Unterstützung. Und, weil viele Eltern dafür nicht die Zeit haben oder aus welchen Gründen auch immer dazu nicht in der Lage sind, kann diese nur ehrenamtlich erfolgen. Dafür setze ich mich ein, und viele andere tun das auch.
Grundschülern kann man, was das Lesen betrifft, meist leichter und vor allem schneller helfen als älteren Schülern oder gar jungen Erwachsenen. Wenn man aber den betroffenen Grundschülern nicht hilft, dann werden aus ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit funktionale Analphabeten. Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten haben einen erheblichen Anteil am beruflichen Erfolg. Der hohe Anteil von Menschen mit solchen Problemen unter den Langzeitarbeitslosen muss nicht verwundern. Die Beispiele von Legasthenikern, die Herausragendes leisten, z.B. Professor werden, sind die Ausnahme.
Unsere Jugend ist die Zukunft unserer Gesellschaft. Keiner darf verloren gehen, schon im Hinblick auf die demografische Entwicklung. Neben den Grundschülern sollte aber auch den Schülern in den weiterführenden Schulen geholfen werden. Allerdings braucht man dafür mehr Zeit. Mit meinen Aktivitäten will ich ein Zeichen setzen. Es haben sich – vielen Dank an alle Mitstreiter – schon etliche Menschen entschlossen, das Gleiche zu tun.
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