Es gibt viele Menschen, die sich für die Leseförderung engagieren, beruflich und ehrenamtlich, in Schulen und vor allem in privatwirtschaftlichen Einrichtungen. Leseförderung ist aber erst seit kurzem in den zuständigen Kultusministerien ein ernstes Thema. Ein gutes Beispiel ist die Einführung des Lesebandes in den Grundschulen in Schleswig-Holstein. Zwanzig Minuten werden jeden Tag gelesen, abwechslungsreich mit verschiedenen Methoden. Jede Einheit wird mit Klingelzeichen eingeläutet. In der Handreichung dazu gibt es nach dem Vorwort von Ministerin Karin Prien eine Überschrift, die Bände spricht: „20 Jahre IGLU und kein bisschen weise?
Die Einführung des Lesebands in Schleswig-Holstein ist eine gute Maßnahme. Ebenso wie das Chorlesen in Hamburg oder die verpflichtenden Sprachtest vor der Grundschule in Bayern. Man merkt in den Ministerien endlich, dass man etwas tun muss, um die Lesekompetenz wieder zu verbessern. Man spürt, dass es nicht mehr ausreichen könnte, auf eine „gottgegebene Krankheit“ namens Legasthenie hinzuweisen.
Leseförderung ab Klasse 2
Über einen Satz in der guten Handreichung zum „Leseband.SH“ bin ich aber gestolpert:
„Das Leseband richtet sich vorrangig an sprachlich und/oder sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 2 bis 4, da die Forschung davon ausgeht, dass zuvor (in der Jahrgangsstufe 1) noch Grundlagen im Schriftspracherwerb gelegt werden sollten, die als Vorläuferfähigkeiten zum Lesen gelten und ein fluentes verstehendes Lesen im engeren Sinne noch nicht stattfinden kann (vgl. Rosebrock/Nix 2020).“
Die Autoren empfehlen für das Leseband ein differenziertes Vorgehen, je nach Fähigkeit der Kinder. Sehr gut, kein Einheitsbrei!
Was passiert in der ersten Klasse?
Beim Leseband ist der Einsatz ab Klasse 2 logisch. Aber warum überlegt man sich in den Ministerien keine Förderung in der ersten Klasse? Aus meiner Förderpraxis weiß ich, dass die Rückstände in der Lesefertigkeit schon in der ersten Klasse aufgebaut werden. Dass die Kinder in ihrer Lesekompetenz weit auseinanderliegen, das müsste man nicht erst zu Beginn der Klasse 2 feststellen. Man könnte früher gegensteuern.
Dass man in der ersten Klasse wirksam fördern kann, wissen viele Praktiker. Zudem zeigt das ein Projekt der LMU in München, über das ich schon oft berichtet habe. 29 schwach lesende Erstklässler erhielten dreimal wöchentlich 20 Minuten Förderung in der Buchstaben-Laut-Zuordnung, beim Lesen von Silben und einfachen Wörtern. Die Vergleichsgruppe hatte in dieser Zeit zum Beispiel Sport. Nach sechs Wochen war ein Unterschied zwischen den Gruppen kaum mehr feststellbar. Das Projekt wurde von der Schulbürokratie nicht aufgegriffen. Leseförderung erfolgt, wenn eine Finanzierung außerhalb der Familie notwendig ist, bei vielen Kindern erst viel zu spät nach einer Diagnose. Hier werden Zeit und Ressourcen verschwendet.
Mich verwundert auch, dass man heute ein ganzes Jahr braucht, um alle Grapheme in Texten lesen zu können. Der Grund: Man verknüpft das Lesen mit dem Schreiben, jedenfalls in den Fibeln, die ich bei der Förderung meiner Schüler kennenlernte. Schreiben zu lernen ist wesentlich aufwendiger als „nur“ das Lesen zu lernen. Schließlich braucht man Schwungübungen und muss auch die Stifthaltung üben. Und: Die Handschrift sollte automatisiert sein. Man kann lange Zeit mit dem reduzierten Buchstabenmaterial keine vernünftigen Texte gestalten, zum Lesen und zum Schreiben. Für den Aufbau der Lesekompetenz wird durch die Kombination mit dem Schreiben viel Zeit verschenkt. Gebremstes Lesenlernen ist das! Noch schlimmer: Die Kinder lernen aufwendig eine Schrift, die sie nur kurze Zeit anwenden sollen und mit der sie aufgrund des reduzierten Lautumfangs lange Zeit auch nicht die Wörter üben können, auf die es in der Rechtschreibung ankommt. Das ist die zweite Zeitverschwendung. Zu meiner Schulzeit waren Lesen und Schreiben zwei Schulfächer in den ersten Klassen, und die verbundene Schrift gab es von Anfang an (bei mir: lateinische Ausgangsschrift). Damals wurde keine Zeit verschwendet.
Was ist heute das Ziel?
Warum hat man die Lehre geändert? Man will, dass die Kinder sehr schnell eigene Texte verfassen können. Die Kinder sollen Kreativität entfalten. Man glaubt, dass das nötig wäre, um eine Schreibmotivation aufzubauen. Aber halt! Wenn die Kinder erst nach einem Jahr alle Buchstaben können, dann können sie doch bis dahin gar keine freien Texte schreiben!
Damit das doch geht, hat man die Anlauttabelle aus dem Konzept Lesen durch Schreiben von Jürgen Reichen schamhaft als Schreibtabelle in die Lehrwerke integriert, worüber ich in meinem letzten Blog geschrieben habe. „Schamhaft“ sage ich deshalb, weil zumindest in Bayern die Kultusbürokratie sich von der Reichen-Methode distanziert. Mit der Schreibtabelle und freien Texten kommt zur Zeitverschwendung noch eine Komponente hinzu, die ein systematisches Vorgehen vom Einfachen zum Komplizierten sehr schwierig macht. Die oft beschworene Systematik der Sprache wird nicht klar, wenn man freie Kindertexte korrigiert und um die „regelgerechte Schreibweise ergänzt“, wie es im LerhplanPLUS heißt. In Bayern ist die Korrektur im Lehrplan vorgeschrieben. Viele Kinder werden verwirrt und haben statt Rechtschreibregeln nur Chaos im Kopf.
Zudem haben zu Beginn der Klasse 2 etliche Kinder schon eine Abwehrhaltung dem Lesen gegenüber entwickelt, weil es für sie mit so viel Frust verbunden ist.
Den Leselernprozess von Anfang an durchleuchten
Wichtig wäre, die Lehre von Lesen und Schreiben in der Klasse 1 zu hinterfragen. Ohne die Klasse 1 bleiben die vielen Maßnahmen nur Stückwerk, auch wenn sie, wie das Leseband.SH gute Maßnahmen sind.
Der aus der Handreichung zum Leseband.SH zitierte Satz zu Beginn dieses Artikels enthält auch eine gewisse Schönfärberei, denn von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten sind nicht nur Kinder aus bildungsfernen Familien betroffen. Denn die gesellschaftlichen Veränderungen wirken sich überall aus und können von der Schule nicht aufgefangen werden, auch wenn in manchen Grundschulen dieser Eindruck erweckt wird. Häusliches Eingreifen erscheint manchmal sogar als unerwünscht. Wenn aber zu Hause das wiederholt wird, was in der Schule dran war, und zwar so, dass es sitzt, kann das doch nur gut für das Kind sein.
Um das, was früher an häuslicher Unterstützung selbstverständlich war, im Vor- und Schulbereich zu ersetzen, wären umfangreiche Maßnahmen und Mittel notwendig. Ob wir als Gesellschaft dazu bereit sind?
So oder so: Der Deutschunterricht in der ersten Klasse darf bei den Überlegungen, wie die Lese- und Rechtschreibkompetenz wieder gestärkt werden kann, nicht außen vor bleiben. Schließlich werden da die Weichen gestellt. Und in meinem Berufsleben habe ich gelernt, dass Probleme immer an der Wurzel anzupacken sind.
Februar 2025 – Siegbert Rudolph
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Es ist bezeichnend, dass wir immer erst fördern, wenn Kinder hinter den Erwartungen zurückbleiben. Es ist gar nicht in den Köpfen vorhanden, dass eine anständige „Vorhilfe“ viel Nachhilfe überflüssig macht. Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Leseförderung müsste in der Vorschule beginnen. In den USA beispielsweise (zumindest dort, wo meine Nichte in die Schule geht) lernen die Kinder in der Vorschule zu lesen. Sie befindet sich jetzt in der ersten Klasse und hat bereits Leseübungen auf Geschwindigkeit (Ziel: > 200 WPM!) auf (Mitte Klasse 1). Sie ist ein lesestarkes Kind, aber dennoch: In anderen Ländern wird deutlich mehr Wert auf eine frühzeitige Förderung der Lesefertigkeiten gelegt. Da können wir uns noch eine ganze Menge abschauen.