Immer Ärger mit den Buchstaben – ZDF am 5. Sept. 2023
Die Dokumentation – https://www.zdf.de/dokumentation/37-grad/37-immer-aerger-mit-den-buchstaben-100.html – hat das Thema Legasthenie an drei Beispielen dargestellt. Was war für mich die Quintessenz?
Erfreulicherweise wurde gezeigt, dass man etwas tun kann, wenn man Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat. Die üblichen Stereotypen, wie zum Beispiel „bleibt ein Leben lang“, wurde nur kurz gestreift. Im Mittelpunkt standen tatsächlich die Anstrengungen der Protagonisten, ihre Schwäche zu überwinden. Und bei allen zeigten sich Erfolge.
Beim Fall des Gymnasiasten wurde von einer Lerntherapeutin darauf hingewiesen, dass das Schulsystem Schüler mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten „klein“ mache. Da hat sie zurecht auf die Wurzel des Übels hingewiesen.
Die Grundschulen können aufgrund fehlender Kapazitäten dem im Lehrplan formulierten Anspruch einer individuellen Förderung gar nicht gerecht. Zitat aus dem bayerischen LehrplanPLUS: „Fehlerhäufungen in der Lerngruppe oder bei einzelnen Kindern nehmen Lehrkräfte zum Anlass, Aufgabenstellungen darauf abzustimmen und Möglichkeiten einer individualisierten Unterstützung zu eröffnen.“ Selbst die vage gehaltene Formulierung „eröffnen“ bleibt oft ein Wunschtraum.
Wieso haben so viele Grundschüler Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben?
Beim Eintritt in die Grundschule sind die Kinder heute in ihrer Entwicklung weit auseinander, bis zu vier Jahre! Viele Kinder haben von Anfang an irgendein attestiertes Problem. Zunehmend mehr Kinder brauchen Schulbegleiter. Unabhängig davon, dass auch in der Vorschulzeit etwas getan werden könnte, ja müsste, konzentriert sich die Grundschule nicht auf das, worauf es in den weiterführenden Schulen ankommt: Lesen, Schreiben, Rechnen. Man kann sich trotz der erschütternden Ergebnisse der Iglu-Studien nicht einmal dazu durchringen, Englisch in der Grundschule wieder abzuschaffen. Wenn man sich bei den drei Protagonisten der ZDF-Dokumentation in der Grundschule um die Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten individuell und intensiv gekümmert hätte, wäre das besser und wirtschaftlicher gewesen. Die Lesezeit in der Schule ist für die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu kurz. Das Programm 3 mal 20 Minuten verpflichtende Lesezeit in NRW ist immerhin ein Ansatz. Schreiben müsste wieder systematisch gelehrt werden. Das heißt, zuerst wird eine verbundene Schrift eingeübt, und der Wortschatz wird nach Besonderheiten systematisch erarbeitet. Die jetzige Didaktik will schnelle Erfolge und Kreativität. Dafür büßen die Kinder später schmerzlich.
Deutlich wurde auch, dass das jetzige bürokratische System der Förderung, insbesondere der Finanzierung dieser Maßnahmen, ungeeignet ist.
Es gibt wissenschaftliche Studien, die belegen, dass eine gezielte Förderung ganz am Anfang des Lernprozesses in der Schule wirksam ist. Umgesetzt wird davon nichts.
Man könnte ganz gezielt externe Kräfte einsetzen, ehrenamtliche Lesepaten und noch besser auch professionell ausgebildete Lerntrainer. Das geschieht nur vereinzelt und wird nicht von den zuständigen Ministerien eingefordert bzw. finanziell unterstützt.
Man könnte viel tun. Einzelne Schulen lassen sich auch etwas einfallen. In Bayern hat man FilBY (Fachintegrierte Leseförderung Bayern) geschaffen. Ein guter Ansatz, der aber über die Köpfe der wirklich schwachen Schüler hinweggeht. Die bräuchten eine individuelle Förderung, und zwar unbürokratisch und ohne Kostendiskussion. Interessant ist, was aus dem sogenannten Startchancen-Programm wird, das derzeit zwischen Bund und Ländern verhandelt wird. In einem Bericht dazu in der FAZ vom 6. Sept. 2023 wird gezeigt, wie schwierig die Abstimmung zwischen Bund und Ländern ist. Die Länder reklamieren ihre Hoheitsrechte auf diesem Gebiet, brauchen aber Geld vom Bund. Erwähnt wird in dem Artikel auch, dass in Brennpunktschulen 50 bis 80 Prozent der Grundschüler die Mindeststandards im Lesen nicht erreichen.
Es ist einfach so, dass manche Schüler länger brauchen, zum Beispiel weil ihre natürliche Blickrichtung beim Lesen von rechts nach links geht. Ihre Blickspanne nach links ist dann einfach zu klein. Und um diese zu erweitern, damit Wörter schneller als Ganzes erkannt werden können, braucht es Trainingszeit (oder ganz neue Methoden). Die Studentin in der Dokumentation erwähnte, dass ihr Buchstaben, wie b und d bzw. q und p, deshalb Schwierigkeiten machen, weil sie die gespiegelt sehe. Das höre ich oft, aber es stimmt nicht. Als mir das zum ersten Mal jemand sagte, dachte ich mir, wieso sind nur diese Buchstaben gespiegelt und nicht alle! Dann habe ich die Schüler getestet und festgestellt, dass sie jeden Buchstaben, auch b und d einzeln einwandfrei und sicher benennen können. Nur beim Lesen von Wörtern werden Buchstaben vertauscht. Der direkte Blick auf einen einzelnen Buchstaben ist etwas anderes, als das Zusammenschleifen von Buchstaben in einer Reihe. Warum? Weil da die Blickrichtung eine Rolle spielt. Lehrer kennen dieses Problem meist gar nicht. Von den Schulbehörden habe ich auf mein Angebot, das Phänomen zu erläutern, gar keine Antwort erhalten. Aber da gebe ich nicht auf.
Der ZDF-Dokumentation ist es gelungen, zu zeigen, dass die Menschen mit Lese- und Rechtschreibproblemen zunächst meist nicht selbst für ihre Probleme verantwortlich sind. Man hat erfahren, dass es Chancen gibt, sich selbst zu helfen. Deutlich wurde auch die Notwendigkeit, im Schulbereich etwas zu tun. Dass man Analphabeten jetzt als „gering literarisiert“ bezeichnet, halte ich für euphemistisch, aber logisch, denn Analphabeten können in einem Land mit Schulpflicht eigentlich nicht vorkommen, schon gar nicht mit einem Anteil von 12 Prozent der Erwerbstätigen.
September 2023 – Siegbert Rudolph
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