Zum Modellprojekt FlowBY des bayerischen Kultusministeriums
„Eva Odersky will nichts Geringeres als eine kleine Revolution im Schrifterwerb.“ So steht es auf der Internetseite der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. (Sie finden alle Links zu den Quellen am Ende des Artikels.) Dr. Eva Odersky begleitet im Auftrag des bayerischen Kultusministeriums das Modellprojekt „FlowBY“. Das Ziel ist der einphasige Schrifterwerb. Den halte ich für richtig. Mich wundert nur das Wort „Revolution“, denn so, nämlich einphasig, habe ich das Schreiben schon vor mehr als 70 Jahren gelernt, und zwar mit der Schreibschrift als Erstschrift. Das Schriftbeispiel ist aus der 3. Klasse:
Die „kleine Revolution“ soll sein, dass die Kinder aus der Druckschrift heraus – ohne eine Schreibschrift zu lernen – ihre eigene Handschrift entwickeln. In den Schulen werde die bayerische Druckschrift wie üblich in der ersten Klasse eingeführt. Dann würden die Kinder in der Entwicklung einer teilverbundenen Schrift begleitet werden, ohne eine formelle Schreibschrift erlernen zu müssen. So die Absicht.
Handschriften-Wirrwarr?
Frau Dr. Odersky kritisiert zu Recht einen Wirrwarr. Da gibt es eine Bandbreite von der Druckschrift, die man natürlich auch mit der Hand schreiben kann, bis zur lateinischen Ausgangschrift. Dazwischen gibt es eine Grundschrift eine Schulausgangsschrift und eine vereinfachte Ausgangsschrift. Schriftbeispiele hat meine Kollegin Melanie Knapp in einem Blog zusammengestellt. Um es ein bisschen komplizierter als nötig zu machen, gibt es in den Bundesländern verschiedene Einsatzszenarien. Und manche Schulen können zwischen verschiedenen Schriftarten wählen. In Bayern wird in der ersten Klasse derzeit die Druckschrift eingeübt, in manchen Ländern wird die Grundschrift verwendet, eine Druckschrift mit Verbindungsandeutungen. Welche Schreibprobleme bei den vereinfachten Schriftarten auftreten, kann man im Blog meiner Kollegin Dina Beneken nachlesen und bei Maria-Anna Schulze Brüning in ihrem Buch „Wer nicht schreibt, bleibt dumm“.
Entwicklung im Zeitablauf
„Seit wann gibt es denn die Diskussion oder Überlegung, ob die Schreibschrift überhaupt sinnvoll ist zum Schreibenlernen?“, fragt Martin Gramlich von SWR Kultur in einem Podcast mit Frau Dr. Eva Odersky. Antwort:
„Bis in die 80er-Jahre wurde Lesen mit Druckschrift gelehrt und Schreiben mit Schreibschrift. Und man war überzeugt, dann auch in den 80er-Jahren: Ohne Schreibschrift geht es nicht. Flüssiges Schreiben funktioniert einfach mit Schreibschrift. Und man hat dann gesagt, ok, wenn die Kinder dann Lesen und Schreiben können also im Prinzip irgendwann im zweiten Schuljahr, da fangen wir dann an, ihnen für flüssiges Schreiben eine Schreibschrift beizubringen.“
Gründe für den Abwärtstrend
In den 80er-Jahren wurde der Lese- und Schreibprozess zusammengelegt. Die Kinder mussten nun Druckschrift schreiben, was keineswegs so einfach ist, wie es aussieht und auch viel Übung erfordert. Gerade Linien sind einfach, sagen Logik und Wahrnehmung. Frau Schulze Brüning erklärt, dass die Motorik dazu „Nein“ sagt. Druckbuchstaben akkurat zu schreiben, erfordert Übung und Konzentration. Am schlimmsten ist, dass nach dem mühsamen Einüben der Druckschrift umgelernt werden muss. „Und jedes Umlernen, das heißt, ein Eingreifen in automatisierte Prozesse, ist ja bekanntlich ein Vielfaches schwieriger als ein Neulernen.“, schreibt Maria-Anna Schulze Brüning weiter.
Auf der Internetseite der Universität findet man dazu ein überzeugendes Schreibbeispiel eines Jungen, der an dem Projekt teilnimmt:
Die Schüler schreiben im Projekt FlowBY auf Papier, das auf einem Grafiktablet liegt, über das alle Bewegungen digital erfasst werden, auch die in der Luft. Man sieht sehr schön, dass das Kind zuerst ein Druckbuchstaben-b in die Luft schrieb und dann erst das Schreibschrift-b auf Papier brachte. Was sagt das aus? Ich meine, dass es besser gewesen wäre, gleich die Schreibschrift zu erlernen, aber auch, dass der Junge die Schreibschrift nicht automatisiert hat. Der Schluss für mich ist nicht der, auf die Schreibschrift zu verzichten, sondern mit der Schreibschrift als Erstschrift zu beginnen. Frau Dr. Odersky dagegen will mit dem Beispiel zeigen, dass die Schreibschrift überflüssig ist und das flüssige Schreiben eher hemmt.
Die Umstellung in der Lehre in den 80er-Jahren hat auch den Leselernprozess negativ beeinflusst. Gelesen werden im ersten Schuljahr überwiegend Texte, deren Buchstaben die Kinder auch schon zu schreiben gelernt haben. Und erst nach einem Jahr sind alle Buchstaben bzw. Laute gelernt. Meine Generation konnte an Weihnachten des ersten Schuljahres lesen, das ABC war durch. Das Lesenlernen wurde nicht durch Schreibübungen gebremst. Als ich vor ein paar Jahren meinen ersten Erstklässler als Lesekind übernahm, war ich bass erstaunt über das, was ich bei der Vorbereitung auf die Leseförderung in seiner Fibel zu Kenntnis nahm.
Ergebnis der Umstellung der Lehre: Man übt im ersten Schuljahr die falsche Schrift ein und verschenkt beim Lesen viel Zeit, weil vernünftige Texte alle Laute brauchen.
Seit der Umstellung der Lehre geht es abwärts mit der Lese- und der Schreibkompetenz. Wobei die Schreibtabelle, mit deren Hilfe die Kinder sich Wörter, die sie noch nicht zu schreiben gelernt haben, für eigene Texte selbst zusammenstellen können, kräftig dazu beiträgt.
Berechtigte Kritik
Kritik am jetzigen System ist angebracht, da liegt Frau Dr. Odersky richtig. Es ist weder effizient noch effektiv, zwei Schriften zum Schreiben zu erlernen. Bei vielen Kindern ist es tatsächlich so, wie Frau Dr. Odersky ausführt, dass sie mit der zuerst erlernten Schrift, nämlich der Druckschrift, schneller und besser schreiben als mit der ungeliebten Zweitschrift, der Schreibschrift. Die Schreibschrift empfinden viele Kinder als aufgepfropft und überflüssig. Sie wird, so schreibt Maria-Anna Schulze Brüning, auch von vielen Lehrern als Stiefkind empfunden.
FlowBY
FlowBY ist eines der vielen Projekte, die das bayerische Kultusministerium seit einiger Zeit vorantreibt, um die Lese- und Schreibkompetenzen zu verbessern. Das Projekt sieht, so wie ich es verstanden habe, keine Änderung in der ersten Klasse vor. Da wird die Druckschrift eingeübt.
Wie man sich die Umsetzung in der zweiten Klasse vorstellt, zeigt folgende Passage aus dem Beitrag auf der Internetseite der Uni:
„Statt die Kinder zu trainieren, eine exakte Schreibschrift zu schreiben, sollten Lehrkräfte mit den Kindern daher ausprobieren, welche Art des Schreibens sich für sie eignet.“, empfiehlt Frau Dr. Odersky, und weiter: „Das geht gut über eine regelmäßige Schreibkonferenz in der Klasse: Alle schreiben das gleiche Wort und man schaut gemeinsam, wer welche Buchstaben wie geschrieben hat. So kann jedes Kind sich entscheiden, etwas zu übernehmen oder bei seiner Art zu bleiben.“
Anhängern der Reformpädagogik geht das sicher runter wie Öl. Aber Kinder sind keine Experten, die beurteilen können, welche Schriftvariante auf Dauer besser ist. Gerade am Anfang wäre eine gezielte Anleitung wichtig, um Fehlentwicklungen, die später nur schwer korrigierbar sind, zu vermeiden. Meine Handschrift ist das Ergebnis von gezielter Anleitung und jahrelanger Praxis. Ich sehe beim Rückblick in alte Unterlagen, dass es die größten Änderungen im Studium und im Berufsleben gab. Meine individuelle Schrift habe ich nicht konstruiert. Sie hat sich nach und nach so ergeben. Auch wenn ich nicht alle Buchstaben verbinde, das schwungvolle, flüssige und doch lesbare Schreiben hätte ich nie ohne die Schreibschrift erwerben können. Beim Wort „schreiben“, das Frau Dr. Odersky zum Beweis ihrer These, dass Erwachsene die Buchstaben kaum noch verbinden, Herrn Gramlich im Podcast schreiben ließ, stand bei mir nur ein Buchstabe allein.
Meiner Generation kann man auch nicht weismachen, dass die Druckschrift die Erstschrift sein muss. Ich weiß aus Erfahrung, dass die Schreibschrift als Erstschrift hervorragend funktioniert, und dass der einzige Nachteil gegenüber der jetzigen Lehre der ist, dass man eine Zeitlang noch keine eigenen „Texte“ zu Papier bringen kann. Aber genau das sieht der LehrplanPLUS des bayerischen Kultusministeriums vor. Das ist aber nur mit der Druckschrift (und einer Schreibtabelle) möglich.
Ineffektive Teiloptimierung
Statt zwei Schriften nur eine zu lehren und einzuüben, ist zwar effizienter und eine gute Entscheidung, aber Frau Dr. Odersky will – oder muss – die Schreibschrift streichen. Auf der oft krakeligen Druckschrift mit selbst gewählten Verbindungselementen aufzubauen, erscheint mir als Praktiker zudem wenig zielführend. So gesehen ist der Name des Projektes, FlowBY, ein Euphemismus. Ich fürchte, es könnte auf „Flow by-by“ hinauslaufen.
Martin Gramlich meint am Ende des Interviews, es würde sich lohnen, auf eine richtige Schreibschrift zu verzichten. Seine Schlussfolgerung zeigt deutlich, wie gefährlich es ist, einfache, betriebswirtschaftliche Effizienzüberlegungen in die Bildungswelt zu übernehmen. Wenigstens hält Frau Dr. Odersky nach wie vor für das Lernen das Handschreiben für unersetzlich.
April 2025 – Siegbert Rudolph
Linksammlung:
SWR Kultur – Bildung – Podcast – Martin Gramlich im Gespräch mit Dr. Eva Odersky, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt – KU-Presseartikel vom 16.03.2025
Melanie Knapp –Blog – Welche Schreibschrift lernt mein Kind
Dina Beneken – Blog – Flüssige Handschrift und Rechtschreibung
Maria-Anna Schulze Brüning, Stephan Clauss – Wer nicht schreibt, bleibt dumm – Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen – Piper Verlag 2017 – Rezension
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