Aufholjagd
Zur Aufholjagd wird gerade in der Schulbürokratie geblasen. Nachgearbeitet werden soll, was in der Zeit der Pandemie auf der Strecke blieb. Nachhilfe soll finanziell gefördert werden. Ein Kraftakt wird angekündigt, so wie vor kurzem der Digitalpakt. Aber, was wird wirklich passieren? Ein schönes Beispiel sind die Schlüsse, die man aus der neuesten Sonderauswertung der PISA-Studie 2018 zieht. Danach haben mehr als die Hälfte der 15 Jahre alten Schüler Probleme, Meinungen und Fakten auseinanderzuhalten. Die Schlussfolgerung ist klar: Es wird gefordert, dass bei der Medienkompetenz nachgebessert werden muss. Das aber ist zu kurzsichtig, denn …
… wenn man mehr Medienkompetenz entwickeln soll, muss man erst einmal mühelos lesen können. Das ist die Grundvoraussetzung. Ohne die sind Maßnahmen, die flüssiges, leichtes Lesen voraussetzen, quasi auf Sand gebaut.
Ein Fünftel unserer Schüler erreicht (lt. Iglu-Studie 2016) nicht einmal das Mindestniveau beim Lesen. In Mittelschulen ist oft mehr als die Hälfte der Schüler leseschwach. Da müssten Alarmglocken schrillen und Maßnahmen gefordert und ergriffen werden. Aber diese Entwicklung scheint die Verantwortlichen nicht zu stören. Dazu passt ein Ergebnis der letzten PISA-Studie: 34 Prozent der Schüler sagen, Lesen sei Zeitverschwendung, und die Hälfte gibt an, nur noch dann zu lesen, wenn es unbedingt sein muss.
Bei der Rechtschreibung ist es ähnlich. Die Rechtschreibleistungen lassen immer mehr nach. Schon vor mehr als zehn Jahren stellten Thomé/Thomé in ihrem „Ratgeber Rechtschreibprobleme“ folgendes fest: „Wenn man etwa dreißig bis vierzig Jahre alte Maßstäbe an die heutigen Rechtschreibleistungen anlegen würde, könnte man gut die Hälfte unserer Schüler als rechtschreibschwach bezeichnen.“ Vor ein paar Jahren wurde deshalb das Diktat abgeschafft. Die schlechten Ergebnisse fallen jetzt nicht mehr so auf.
Beim kleinen Einmaleins beschränkt man sich laut Lehrplan auf 1, 2, 5 und 10. Zu meiner Schulzeit gab es in jeder Rechenstunde, so hieß das Fach damals noch, Kopfrechnen für die ganz Klasse. Da wurde geübt, bis bei allen plus und minus und das Einmaleins automatisiert waren.
Mein Eindruck ist, dass man es den Kindern immer leichter machen will. Sie sollen sich nicht plagen müssen, kreativ sein und Spaß haben. Deshalb dürfen, besser müssen sie schon in der ersten Klasse eigene Texte schreiben, aber sie brauchen vorher keine verbundene Schrift oder gar die richtige Schreibweise der Wörter zu lernen. Der Spaß und das Vergnügen kommen nach der Anstrengung, nicht vorher. Schreiben und Lesen ist für viele Kinder eine Last, weil sie es nicht richtig gelernt und eingeübt haben.
Eine meiner Schülerinnen (7. Klasse) hat sich in vielen Übungsstunden in den letzten eineinhalb Jahren zur fast normalen Leserin entwickelt. Vorher hatte sie sich geweigert, zuhause mit der Mutter zu üben. Jetzt sagte sie dazu in einem Gespräch mit den Fürther Nachrichten: „Das war echt doof von mir.“ Das Üben mit den Eltern ist aber auch oft schwierig, weil die Eltern schnell die Geduld verlieren. Eine Mutter erzählte mir, bei Lesefehlern ihres Sohnes (2. Klasse) sage sie schon, er solle sich doch bitte besser konzentrieren. Ich riet ihr, das wegzulassen. Einfach mit dem Finger noch einmal auf die Stelle zeigen, die falsch war, dem Kind helfen, das für ihn schwierige Wort zu lesen, das Wort später wiederholen und dann loben. Wichtig ist auch, darauf zu achten, dass das Kind nicht zu schnell liest, was oft eine Ursache für die Lesefehler ist. Mut zu machen ist wichtig.
Beim Schreiben wird immer öfter nur noch mit Lückentexten gearbeitet. Aus Zeitgründen bleibt da auch oft gar nichts anderes übrig, denn geschrieben wird langsam, aber deswegen nicht unbedingt schön. Wenn ich die Stifthaltung mancher Kinder beobachte, denke ich mir, warum hat denen denn niemand gezeigt, wie man den Stift richtig hält, um flüssig schreiben zu können. Schwungübungen, um schön und vor allem leicht schreiben zu können, gibt es meines Wissens auch nicht mehr.
Oft hilft die Diagnose Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung. Für die meisten Kinder bringt sie die Erkenntnis: „Ich kann es halt nicht!“ Die Eltern sind erleichtert, dass es für die Schwierigkeiten Ihres Kindes einen Grund gibt, für den niemand etwas kann, weil es ja eine Krankheit ist. Die Schule ist damit raus aus der Verantwortung. Die betreffenden Schüler bleiben dann für die weitere Schulzeit meist unter ihren Möglichkeiten oder müssen sich vergleichsweise viel mehr anstrengen, um mithalten zu können.
Die Basisfertigkeiten müssen – auch heute noch – beherrscht werden. Andersdenkende verweisen auf den Taschenrechner, der das Kopfrechen überflüssig mache, oder auf die Suchmaschine, die das Lernen von Wissen erübrige, schließlich könne man alles googeln. Den Kindern tut man damit nur scheinbar einen Gefallen. Die kurzfristige Erleichterung bringt später viel Ärger und Qual. Nachhilfe bzw. Förderung müsste immer dort ansetzen, wo das Kind steht. Und wenn die Basis nicht sitzt, das Lesen Schwierigkeiten macht, die Buchstaben nicht flüssig aus den Fingern fließen oder beim kleinen Einmaleins nachgedacht werden muss, haben Fördermaßnahmen, die diese Schwächen ignorieren, wenig Chancen auf dauerhaften Erfolg. Zum Beispiel lehne ich Rechtschreibförderung ab, wenn die Handschrift nicht flüssig und leicht ist. Diese Voraussetzung muss zuerst geschaffen werden, sonst bleibt die Förderung ineffektiv und ineffizient.
Die Kinder sind heute bestimmt nicht dümmer als früher. Aber sie haben andere Rahmenbedingungen. Manchen fehlt zuhause nicht nur jede Unterstützung, sondern auch das Gespräch. Lesen hat man noch nie nur in der Schule gelernt. Aber heute muss es die Schule oft allein richten. Und dafür bräuchte sie auf jeden Fall mehr Personal. Aber die Schulbürokratie verschärft das Problem, denn, statt für den Deutschunterricht mehr Zeit vorzusehen, wurde der Lehrplan der Grundschule um Englisch erweitert. Die weiterführenden Schulen fangen bei diesem Fach aber alle wieder von vorne an. Statt Englisch zu lehren, sollten besser die Grundkompetenzen, die jeder Schüler braucht, verstärkt eingeübt werden. Das wäre mal ein Schritt in die richtige Richtung. Oder, man könnte ja mal überlegen, wie man auf die immer größere Bandbreite reagiert, in der die Kinder heute in die Grundschule eintreten. Manche kennen schon alle Buchstaben und vielleicht auch ein bisschen lesen, andere nicht einmal ihre Schnürsenkel selbst binden, geschweige denn, sich auf eine Sache konzentrieren. Ich hatte die Leseförderung eines Erstklässlers übernommen und nach wenigen Stunden der Lehrerin gesagt, dass ich diesen Jungen einfach nicht für schulreif halte. Zu meiner Verblüffung sagte die Lehrerin: „Das wissen wir, aber es ist der Elternwille, dass der Junge in die Schule geht.“
Ich bin gespannt darauf, was man sich zur Bewerkstelligung der Aufholjagd einfallen lassen wird. An den Durchführungsbestimmungen ist schon der Digitalpakt Schule gescheitert. Operative Hektik gibt es derzeit genug. Die Corona-Pandemie hat viele, bereits bestehende Probleme im Bildungswesen noch verschärft. Viele Kinder wurden weiter abgehängt. Wenn man sich bei diesen Schülern darauf konzentriert, deren Basisfertigkeiten zu festigen, wäre viel gewonnen. Aber dafür reichen die Sommerferien nicht. Eine Lese- Rechtschreib- und Rechenförderung, die wirklich etwas bringt, sollte auf ein bis zwei Jahre angelegt werden. Und diese Förderung braucht man nicht nur an Grundschulen. Man könnte damit die Voraussetzung für mehr Selbständigkeit dieser Kinder schaffen. Darauf könnte man dann später in Ruhe weiter aufbauen.
Nachtrag:
Man hat in der erwähnten Sonderstudie außerdem festgestellt, dass man beim Lesen digitaler Medien weniger Freude hat und weniger lernt. Verwunderlich ist das nicht, denn online verführt zur Oberflächlichkeit. Man huscht über den Text, man schreibt, ohne sich das Geschriebene noch einmal anzusehen, oft beim Gehen, was ich immer wieder beobachte, und zu meinem Schrecken kommt mir öfters mal ein Radler entgegen, der, statt auf den Radweg zu gucken, mit seinem Handy beschäftigt ist. Man kann mit dem PC sehr gut lernen. Man muss sich halt konzentrieren. Multitasking ist für Computer gut, nicht für den Menschen. Ein abschreckendes Beispiel sah ich neulich in der Werbepause einer Sportübertragung eines Privatsenders, die ich beim Trainieren in meinem Keller guckte: Da wird die smarte, junge Anna gezeigt, die in der Küche beim Kochen auf dem Handy einen Kreditvertrag abschließt und dabei auch noch Geld spart. „Schönes“ Vorbild!
1 Kommentar, übernommen von meiner bisherigen Internetseite
Montag, 07 Juni 2021 10:04 gepostet von Dina Beneken
Lieber Siegbert Rudolph. das spricht mir aus der Seele. Online verführt zur Oberflächlichkeit – und nicht zu selten auch zu falschen Erwartungen. Ich werde oft von Eltern gefragt, welche App zum Lesen lernen denn geeignet ist. Nun. der Markt ist übersichtlich und überschaubar. Am Ende des Tages aber habe ich noch keine App gefunden, die das hinter dem Wunsch liegende Bedürfnis („mein Kind ist motiviert und lernt mit Freude selbständig Lesen, weil die APP einen so großen Aufforderungscharakter hat“), befriedigt.
Der kompetente Lernpartner aka Eltern, Lesepate, Erzieher im Hort – ist durch keine APP zu ersetzen. Denn er ist menschlich, passt sich dem Tempo und der Stimmung des Kindes an und ist in der Lage, genau hinzuschauen. Das kann kein noch zu guter Algorithmus.
Medienkompetenz ist eben nicht „einen Computer zu bedienen“ – Um FakeNews, falsche Werbeversprechen, Werbung von Wahrheiten. gute Inhalte von Schmarrn zu unterscheiden, braucht es eine Basis: flüssiges Lesen mit Textverständnis. Und das hat mit Digitalisierung nur bedingt etwas zu tun.
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