Entscheidend ist nicht die Diagnose
Ob ein Kind eine Lesestörung bescheinigt bekommen hat oder nicht, interessiert mich bei meinen Schülern zunächst überhaupt nicht. Mit meiner Leseförderung muss ich sowieso da ansetzen, wo das Kind steht, also, wo es hakt, und das stelle ich in einem eigenen, einfachen Eingangstest fest.
Feststellen, wo es hakt
Meine Schüler – derzeit habe ich nur wenige – liegen allermeist weit unter der Norm und sind oft auch schon ziemlich gefrustet. Ich gehe deshalb pragmatisch vor. Ich erkläre den Kindern, dass ich eine kurze Leseprobe brauche, um zu erkennen, „wo wir anfangen müssen“. Den Eltern wissen, dass ich Teile der Aufnahme evtl. für Schulungen oder für meine Internetseite anonym verwende.
Wenn ich Kinder teste, die nicht so weit hinterherhinken, dann gebe ich den Eltern Übungstipps.
Das folgende Video ist ein Ausschnitt aus dem Test einer Schülerin am Anfang der 3. Klasse. Die Mutter informierte mich, dass sie mit ihrer Tochter beim Lesen einfach nicht mehr weiterwisse und dass eine Legasthenie bescheinigt wurde. Die Tochter könne kaum lesen, und es werde nicht besser.
Eingangstest Klasse 2 – Auszug
In meinem Eingangstest wurden 8 Wörter pro Minute gelesen! Ich schaue auch, ob eine Silbenkennung hilft. Meistens mache ich auch den Test mit Wörtern, die auf dem Kopf stehen, weil sich dann zeigt, ob die Blickrichtung bevorzugt von rechts ist. Manchmal kommt noch Blitzlesen oder ein Buchstabentest dazu. Einen Fehlerquotienten zu ermitteln oder die Sinnentnahme zu prüfen erübrigt sich in einem Fall wie diesem.
Meine Tests findet man im Downloadbereich unter Am Anfang – Tests – Grundschule 2. Klasse.
Video: Eingangstest Klasse 2 – Auszug
Nach dem Test wird entschieden, wie geübt wird. Ich suche eine passende Übung für den Anfang heraus. Hier war es eine einfache Lesepyramide.
Das Programm wird bei mir aber nicht über einen längeren Zeitraum aufgestellt. Ich plane von Übung zu Übung unter Berücksichtigung der jeweiligen Erkenntnisse.
Vielfältige Übungen
Mit der Schülerin aus dem Beispiel habe ich am Anfang viel vorgelesen und wiederholen lassen sowie Übungen gewählt, bei der ich die Textanzeige am Bildschirm auf Buchstaben, Silben oder Wörter mit meiner Wunschgeschwindigkeit einstellen kann. Das hilft, die Blickrichtung zu schulen, und es nimmt Stress aus der Übung.
Folgende Übungsarten kamen zum Einsatz:
Lesepyramiden, um schnell Erfolgserlebnisse für die Schülerin zu schaffen. Ordner: Am Anfang – Texte – Lesepyramiden
Lesepyramide online
Leseübungen mit kurzen Texten, die nur aus einer Silbe bestehen – Ordner: Am Anfang – Texte – Eine Silbe
Elektronischer Lautbaukasten, um den Wortaufbau zu verdeutlichen. Ordner: Symptome – Blick von rechts.
Elektronischer Lautbaukasten
Verschiedene Texte mit Wiederholungs- und Verständnisübungen: Ordner: Am Anfang – Texte – Einfache Leseübung und Tierquatsch sowie Texte aus den Ordner Klasse 2 und 3 sowie aus dem Ordner Symptome – Blick von rechts, auch online
Verdrehte Buchstaben, um besonders den Wortanfang zu üben. Ordner: Symptome – Blick von rechts – Verdrehte Buchstaben
Verdrehte Buchstaben online
Textverständnisübungen, um diese Fertigkeit schon relativ früh zu entwickeln und zu testen. Ordner: Am Anfang – Textverständnis und später Klasse 2 – Textverständnis – und Klasse 3 – Textverständnis
Textverständnis online
Abwechslung in das Training bringen, zum Beispiel durch die Übung Wörterlooping oder „Die Sprache der Tiere“. Ordner: Sammelsurium
Wörterlooping
Schüttelsätze, um die schnelle Worterkennung zu üben und das Raten abzustellen – Ordner: Symptome – Ratetechnik – Schüttelsätze
Schüttelsätze online
Texte mit Alternativsätzen bzw. mit Satzvariationen, um den Wortschatz aufzupolieren und genaues Lesen zu üben – Ordner: Symptome – Ratetechnik
Texte mit Alternativsätzen online
Witze, mit Humor üben – Ordner: Klassen 2 und Klasse 3
Übungen mit zusammengesetzten Wörtern – Ordner: Symptome – Komposita und Wörterassoziationen
Spezielle Übungen für „qu“ und „ge als Vorsilbe“ – Ordner: Symptome – Häufig falsch
Schnellleseübungen – Ordner: Symptome – Zack-zack
den/denn – Ordner: Symptome – Vokallänge
Unpassende Wörter finden – Ordner: Klasse 3 – Besondere – Da stimmt was nicht
Da stimmt was nicht
Das waren die wichtigsten Übungsarten, die zum Einsatz kamen.
Fortschrittskontrolle
Als erfahrener Trainer mit inzwischen weit über hundert Schülern höre ich die Fortschritte. Gemessen mit der Stoppuhr werden sie von mir aber nicht oft, um keinen Druck zu erzeugen, übrigens auch nicht für mich. Ein Ziel, das mit einem Termin verbunden ist, gibt es bei meiner ehrenamtlichen Förderung nicht. Professionelle Trainer machen das schon wegen der Dokumentation sicher anders und müssen vereinbarte Termaine beachten.
Nach 80 Trainingseinheiten à 30 Minuten per Zoom habe ich mit der Schülerin den ersten Lesetest mit Geschwindigkeitsmessung gemacht. Das Video ist ein Auszug. Insgesamt hat der Test 240 Wörter. Im Schnitt wurden 65 Wörter pro Minute gelesen. Verständnisfehler gab es keine. Die 5 Lesefehler waren minimal, im Hörbeispiel „hat“ statt „hatte“. Die Verständnisfragen wurde alle richtig beantwortet. Die Lesegeschwindigkeit wäre höher, wenn das Kind Lesefehler, die den Sinn nicht entstellen, nicht korrigieren würde. Aber das habe ich ihr beigebracht. Ein Textabschnitt wurde sogar mit 83 Wörtern pro Minute ohne Fehler gelesen. Nach weiteren 20 Trainingseinheiten war das Mädchen so weit, dass sie meine Unterstützung nicht mehr brauchte. Die Förderungsdauer betrug insgesamt 1 Jahr und 4 Monate.
Video: Lesetest Geschwindigkeit – Auszug
Legasthenie ist kein Schicksal
Das Beispiel zeigt auch, dass eine Bescheinigung für Legasthenie nur eine Momentaufnahme ist. Eine festgestellte Lesestörung sagt nichts über die Ursache aus, sondern nur, dass die Leseleistung zum Zeitpunkt des Tests nicht der Norm entsprach. Ein medizinischer Grund für die Lesestörung (und auch für die Rechtschreibstörung) wird bei der medizinischen Diagnose explizit ausgeschlossen. Das habe ich in meinem Blog „Krankheit als Erlösung – vor kurzem beschreiben. Keinen meiner Schüler habe ich als krank empfunden, höchstens mal als schlecht gelaunt.
Mein erster Fall hat mich geprägt
Meine erste Förderung betraf eine 14-jährige Mittelschülerin mit Legasthenie. Zu ihr kam ich im Ruhestand bei einem Bewerbungstraining. Das war meine Premiere für die AktivSenioren Bayern e.V., bei denen ich inzwischen Ehrenmitglied bin. Das Mädchen war nicht in der Lage, die Stellenanzeige, die ich herausgesucht habe, auch nur ansatzweise zu entziffern. Es hieß an der Schule, die Störung läge in der Familie. Förderung hätte nichts gebracht. Leseleistung nur Bruchstücke, teilweise Laute, die mit dem Geschriebenen in keinem Zusammenhang standen. Damals habe ich noch keine Aufnahmen gemacht. In diesem Fall waren es 180 Trainingseinheiten à 45 Minuten, meist in der Schule. Wir haben mehrmals pro Woche geübt, ohne Murren der Schülerin. Zum Ende der Schule bestand das Mädchen den schriftlichen Einstellungstest einer großen Firma und bekam laut Lehrerin die beste Lehrstelle in der Klasse, sie wurde Mechatronikerin. Dieser Fall hat meine Einstellung zum Thema Legasthenie geprägt. Angefangen habe ich mit dieser 14-jährigen jungen Frau mit der Buchstaben-Lautzuordnung, also ganz unten, da, wo es gehakt hat. Geholfen hat mir die erstaunliche Eigenmotivation dieses Mädchens. Sie hat es mir leicht gemacht. Als ich sie nach ein paar Jahren fragte, ob sie nicht bemerkt hätte, dass ich zu Beginn des Trainings keine Ahnung von der Leseförderung hatte, meinte sie: „Sie haben ja alles nur für mich gemacht!“
Oktober 2025 – Siegbert Rudolph
Blog Krankheit als Erlösung – Die medizinische Diagnose
Lesekoch-Übungen – kostenlos- PowerPoint und online – Die Seite mit den Online-Übungen ist noch im Aufbau, aber es gibt schon eine breite Übungspalette!
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