„Legasthenie ist, wenn man kein Doppel-s hört!“
„Ich höre nun mal einfach kein Doppel-s oder bei den/denn – diese zwei N – ich kann die nicht unterscheiden. Weil das Gehör sie mir einfach nicht freigibt.“
So wird Frau Meta Hiltebrand, eine Starköchin und bekennende Legasthenikerin, in einem Beitrag von SWR3 plakativ zitiert. Überschrift: Wie erkennt man Legasthenie? Warum hat man denn Frau Hiltebrand nicht gesagt, …
dass man die zwei n bei denn nicht hören kann, weil nn und n nur zwei Schreibweisen für denselben Laut sind. Auch bei dem Wort Wasser, um ein Beispiel für das im Zitat genannte Doppel-s zu nennen, hört man das zweite s nicht. Frau Hiltebrand geht es da so wie allen anderen Menschen auch. Die Frage in der SWR3-Dokumentation, ob Legasthenie heilbar ist, wirkt im Zusammenhang mit diesem Zitat einfach lächerlich. Mich wundert es allerdings nur ein bisschen, dass die an dem Artikel beteiligten Fachpersonen diese Aussage unkommentiert lassen.
In unserer Schriftsprache werden manche Buchstaben doppelt geschrieben. Sie werden aber immer nur einmal gesprochen, Bei Vokalen bedeutet die Verdoppelung, dass der Vokal gedehnt wird. Bei Doppel-Konsonanten ist die Aussprache nicht anders, als wenn nur einer dastünde. Die Verdoppelung hat eine Auswirkung auf den Vokal davor. Der klingt dann anders als sein Buchstabenname, nämlich kurz, und das hört man auch. Mit meinen Schülern, die meist eine Legasthenie-Bescheinigung haben, übe ich diese Leseregel von Anfang an, wie ich in der Abbildung zeige:
Vor dem Lesen des Textes übe ich mit meinen Schülern die Besonderheiten bei der Lautschreibung von Wörtern, die später im Text vorkommen. Rote Kästchen zeigen, dass die Schreibung den Vokal davor „schnell“ macht. Mit den Wörtern in Klammern wird geübt, wie die Wörter gelesen werden würden, hätten sie den Doppelkonsonanten nicht. Schon nach ein paar Übungsstunden kennen alle meine Schüler diese Regeln. Blaue Kästchen bedeuten, dass der Vokal gedehnt wird. Und mit schwarzen Kästchen werden Buchstaben zusammengefasst, die einen Laut bilden. Und nebenbei bemerkt: Der Laut ng darf beim Lesen in Silben auch nicht auf zwei Silben verteilt gelesen werden, wozu die Duden-Trennsilben verführen.
Die Doppelkonsonanten in unserer Schriftsprache sind tatsächlich ein Problem für viele Schüler. Wer noch schwach liest, also Buchstabe für Buchstabe erliest, der hat den Vokal schon gesprochen, bevor er die Information zur Kenntnis nehmen kann, die etwas über die Aussprache des Vokals sagt. Die Leseregel für Vokale kennen die Schüler nicht. Sie ist eine Umkehrung der Rechtschreibregel. Zudem haben die Schüler in der Schule wahrscheinlich auch nicht gehört, dass es das e mehrmals gibt, nämlich kurz und lang (wie auch bei anderen Vokalen) und das e-Schwa (zum Beispiel das e in Hase), das viele Schüler auch als langes, also mit dem Buchstabennamen lesen.
Ich weiß, dass Schüler trotz einer bescheinigten Legasthenie sehr gut in der Lage sind, diese Lese-Regeln zu verstehen und nach und nach umzusetzen. Vor ein paar Wochen hat mich ein Schüler mit seinen Lesefehlern bei den und denn wirklich genervt. Ich habe dann eine halbe Stunde mit ihm genau dieses Wort geübt, auch mit Sätzen, in denen er selbst zwischen den und denn wählen musste. Als seine Mutter nach der Stunde fragte, wie das Training war, meinte er nur: „Horror!“ Der war es tatsächlich auch für mich! Aber: Seitdem liest mein Schüler den und denn richtig.
Fazit: Legasthenie ist keine Krankheit, auch wenn sie im IDC, dem internationalen Krankheitskatalog steht. Allerdings ist nicht jedes Kind in der Lage, das Lesen (und Rechtschreiben) so schnell zu erlernen, wie es das Schulsystem vorgibt. Dann ist Hilfe vonnöten. Die gibt es leider nur manchmal im Schulsystem. Und meist setzt die Hilfe, auch die außerschulische, sehr spät ein. Dabei weiß jeder Praktiker: Je früher die Förderung einsetzt, desto wirksamer ist sie. Auch die Wissenschaft weiß das! In einer Studie hat die LMU sogar nachgewiesen, dass eine gezielte Förderung in der ersten Klasse die Rückstände der betroffenen Kinder ganz beseitigen kann.
Mein Bericht von der LMU aus dem Jahr 2019: Link zum Bericht.
Quelle des Zitats von Frau Hiltebrand: Link. Ich habe bei dieser Quelle keine Kommentarfunktion gefunden, sonst hätte ich auch direkt dazu Stellung genommen. Die Abfrage zum Schluss, ob dieser Artikel hilfreich war, habe ich verneint. Obwohl meine in der Praxis gewonnene Überzeugung, dass Legasthenie keine Krankheit ist, dadurch bestätigt wird.
Frau Hiltebrand wird außerdem wie folgt zitiert: „Die Buchstaben haben sich bei mir im Kopf gedreht. Vieles hab´ ich auch einfach nicht gehört, weil ich einfach einen Hörfehler hatte als Kind.“
Dass man das Gehör beim Rechtschreiben braucht, war nicht immer so. In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hat man gedacht, man müsste den Schülern nicht so viel „Vorbereitung“ zumuten und könnte sie gleich nach Gehör – ohne einen Wortschatz erarbeitet zu haben – drauflosschreiben lassen, um ihre Kreativität nicht zu bremsen. Nicht einmal eine flüssige Schrift glaubte man – und glaubt man weitgehend auch noch heute – wäre dazu erforderlich. Die Folge ist eine stetige Zunahme der Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Ich denke, IGLU und PISA muss ich da nicht zitieren.
Das Problem vieler „meiner“ Legastheniker liegt in der Blicksteuerung. Inwieweit sich Buchstaben drehen, dazu habe ich bei meinen Schülern keine Hinweise. Auffällig ist allerdings, dass das bei uns übliche „a“ oft mit dem „e“ verwechselt wird, was tatsächlich gedreht aussieht. Viele meiner Schüler lesen einen Text, der auf dem Kopf steht, deutlich flüssiger, siehe meinen Blogbeitrag Phänomen beim Lesen. Sie lesen oft Buchstaben nicht in der richtigen Reihenfolge und trainieren mit mir deshalb die Blickrichtung. Ohne diese gezielten Übungen würden sie sich nicht verbessern.
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