Raten beim Lesen – eine Sackgasse!
Immer wieder habe ich Schüler, die gut lesen würden, wenn sie mehr Erfolg beim Raten hätten. Den hatten sie am Anfang ihres Leselernprozesses. Da waren die Texte einfach, und sie wussten nach ein paar Wörtern, wie der Satz zu Ende gehen würde. Sie hatten damit Erfolgserlebnisse. Gerade bei sehr cleveren Kindern kommt das oft vor. Das Raten wird dann perfektioniert und läuft irgendwann quasi automatisiert ab. Wenn die zu lesenden Texte anspruchsvoller werden, klappt die Ratetechnik immer öfter aber nicht.
Wenn ich Kinder in der zweiten Klasse frage, …
… warum sie etwas lesen, was nicht geschrieben steht, dann geben sie meist zu, dass sie geraten haben. Später ist diese Technik gar nicht mehr bewusst. Manchmal wird dem Sinn entsprechend geraten. Manche Pädagogen, z.B. Jürgen Reichen in seinem Buch „Hannah hat Kino im Kopf“ vertreten die Meinung, dass man dann nicht eingreifen dürfe, denn das Kind hätte ja den Sinn des Satzes verstanden. Reichen ist der Pädagoge, der mit der Anlauttabelle viel Unheil angerichtet hat. Ein Beispiel für sinngemäßes Raten ist der Satz: „Der Häuptling senkte sein Haupt.“ Gelesen wird: „Der Häuptling senkte seinen Kopf.“ Ich lasse solches Raten nicht durchgehen, denn die Ratetechnik ist die Ursache vieler sinnentstellender Lesefehler. Letztlich ist das Raten, ob sinnentstellend oder nicht, ein Beweis dafür, dass das Entschlüsseln bzw. Erkennen der Wörter noch nicht schnell genug funktioniert. Auffallend ist auch, dass meist alle Nomen eines Satzes in der Mehrzahl gelesen werden, wenn das erste Nomen im Plural steht. Zum Beispiel: „Die Mäuse laufen vor der Katze davon“ wird zu „Die Mäuse laufen vor den Katzen davon“. Oder mein Lieblingsbeispiel aus einer Geschichte, die im Zoo spielt: „Stell dir vor, du liegst in einem Bett in einem Baumhaus“ wird zu „Stell dir vor, du liegst in einem Bett und schläfst“. Klar, was sollte man dort auch anderes machen.
Wenn sinnentstellend geraten wird, lesen die Kinder meist einfach weiter. Der Text wird damit falsch interpretiert, der Zusammenhang geht verloren, und Textaufgaben können nicht gelöst werden. Die Geschwindigkeit hat nichts genutzt, sie war sogar kontraproduktiv. Ich frage dann, ob das Gelesene verstanden wurde. Das macht die Kinder nachdenklich. Ich erkläre ihnen dann, dass sie in solchen Fällen ohne Aufforderung von selbst die Stelle wiederholen sollen. Manchmal sage ich auch direkt: „Jetzt hast du wieder geraten! Lies bitte noch einmal genau!“
Es ist nicht so leicht, einem Kind das Raten abzugewöhnen, wenn sich diese Methode schon verfestigt hat. Gerade habe ich wieder eine solche Schülerin. Sie ist in der vierten Klasse und geht demnächst auf ein Gymnasium. Wie übe ich mit diesem Mädchen? Aus Erfahrung weiß ich, dass es nicht reicht, ein paar Übungen einer bestimmten Art zu machen.
Bei meinen Übungen hilft die Möglichkeit, die Texte buchstaben- oder wortweise auf den Bildschirm zu bringen. Die Kinder müssen dann in der (angepasst langsamen) Geschwindigkeit lesen, die ich für sie eingestellt habe oder in der ich klicke. Jedes Wort wird erst dann gesagt, wenn es vollständig am Bildschirm steht. Um die Leseflüssigkeit zu verbessern, wiederholen wir den Text in kurzen Abschnitten.
Ich habe aber auch besondere Übungsarten für dieses Thema entwickelt: Dazu gehören u.a. „Sätze mit Knax“ und „Schüttelsätze“.
Zwei Beispiele für Sätze mit einem Knax: „Wir fuhren in den Zoo, wo wir Tiere futtern konnten.“ Oder: „Wir bekamen schlechtes Essen, es war fruchtbar.“ Ich sage meinen Schülern, dass in diesen Sätzen jeweils ein sinnentstellender Fehler ist, den man leicht überlesen kann, vor allem, wenn man rät. Ich mache meinen Schülern ihre Ratetechnik damit bewusst. Es kommt darauf an, nicht zu schnell und vor allem genau zu lesen. Nach einiger Zeit wirkt das sicht- und hörbar. Nach vier bis fünf Sätzen lasse ich meine Schüler dann die Sätze flüssig, also schneller wiederholen.
Bei den Schüttelsätzen wird der Satz im wahrsten Sinne des Wortes durchgeschüttelt. Die Wörter stehen dann in einer sinnlosen Reihenfolge und sollen genau gelesen werden, was insbesondere für das Lesen der nicht angepassten Endungen viel Konzentration erfordert. Beispiel:
Bewegt was wegen Verteidiger der sich alles tritt eisenharte.
Alles bewegt sich was gegen tritt Verteidiger eisenharte der.
Der eisenharte Verteidiger tritt gegen alles, was sich bewegt.
Hier werden die Wörter mehrmals geübt und die Konzentration gefördert. Vom Satzbau her kann man nicht auf den Fortgang des Textes schließen, was natürlich bei besserer Lesetechnik sehr sinnvoll ist.
Natürlich erklärte ich meiner Schülerin ganz genau, warum wir diese Übungen machen. Sie macht engagiert mit und findet inzwischen die meisten Fehler in den Sätzen mit Knax auf Anhieb und freut sich darüber. Ich schätze, dass wir noch kurze Zeit miteinander üben, dann wird sie mich nicht mehr bauchen.
Bei anderen Schülern habe ich auch mit Fantasiewörtern oder Texten gearbeitet, bei denen jeder Satz in einer Variante wiederholt wurde.
Am Anfang des Leselernprozesses sollte das Motto gelten: genau geht vor schnell. Die Geschwindigkeit kommt mit der Übung. Wenn begonnen wird zu raten, muss dem Kind geholfen werden, richtig lesen zu lernen. Da sollte man nicht abwarten, ob sich das wieder gibt!
Die Übungen findet man im Ordner Symptome/Ratetechnik!
Siegbert Rudolph
2 Kommentare, übernommen aus meiner vorhergehenden Internetseite
Montag, 03 Oktober 2022 12:07 gepostet von Siegbert Rudolph
Sehr geehrte Frau Miethe,
ja, die Ratetechnik ist, wenn sie einmal zur Lesestrategie geworden ist, nur schwer wieder abzugewöhnen. Warum? Weil man einen großen Schritt zurückgehen muss. Auch ich brauche mit meinen Schülern dafür viel Zeit. Zuerst muss den Schülern das Thema bewusst sein. Nur so kann motiviert geübt werden. Der Hinweis auf Lesefehler wird dann nicht mehr als Kritik empfunden. Meine Schülerin hat neulich den Satz lesen müssen: „Nenne mir schnell fünf Tiere aus Afrika!“ Sie las „… aus Amerika!“ Ich habe Sie dann gefragt, wo die Tiere leben sollen? Antwort: „Na, in Amerika!“ Mein Hinweis „Schau dir noch einmal genau an, was da steht“, hat sie richtig betroffen gemacht. Vielleicht gelingt es Ihnen auch, bei Ihrem Sohn dieses Bewusstsein zu erzeugen.
Ich trainiere nur eine begrenzte Zahl von Kindern, alle über Zoom, und zwar zwei bis dreimal wöchentlich. Im Moment kann ich keine weiteren Schüler annehmen. Es tut mir leid!
Viele Grüße – Siegbert Rudolph
Freitag, 30 September 2022 07:28 gepostet von Christiane Miethe
Sehr geehrter Herr Rudolph,
Ich bin völlig bei Ihnen und habe einen recht intelligenten Sohn, der ebenso die Ratetechnik für sich entdeckt hat, weil er sich mit konzentrierten und lieber etwas langsameren Arbeiten schwer tut. Zu Hause geraten wir sehr oft aneinander, da sich dies natürlich in allen schulischen Bereichen wieder spiegelt und er „Kritik“, bzw. „Aufforderungen zum genaueren Arbeiten“ von mir nicht mehr hören will/ kann. Deshalb meine Frage: können Sie das (wie oben im Fall mit der Schülerin beschrieben) auch mit meinen Sohn angehen? Wenn ja, wie würde das ablaufen und was käme an Kosten hinzu?
Vielen Dank für eine baldige Antwort
Mit freundlichen Grüßen
C. Miethe
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