Rechtschreibkompetenz – Die Talfahrt geht immer weiter
FAZ vom 24. 11.22 – Gespräch mit dem Germanisten Michael Becker-Mrotzek, Leiter des Mercator Instituts für Sprachförderung in Köln
Dass zu wenig geübt wird, ist eine der vollkommen richtigen Feststellungen in diesem Artikel. Auch zu der vorschulischen Zeit und zur Wirksamkeit der frühen Förderung werden wichtige Aussagen gemacht. Die folgende Passage aber hat mich nachdenklich gemacht:
„In der Tat ist das Grundprinzip unserer Sprache, Laute in Schriftzeichen zu übersetzten. Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, die orthographischen Regelmäßigkeiten zu nutzen. Die tollste Erfindung im Rahmen der Schrift ist die Erfindung des Leerzeichens, mit dem man ein Wort von anderen abgrenzen kann. Das muss man lernen. Dann muss man noch wissen, dass Hauptwörter großgeschrieben werden und dass einige Wörter anders ausgesprochen als geschrieben werden. Wenn man Hund sagt, hört sich das d wie ein t an. Hunde spricht man mit d und schreibt es mit d. Das ist eigentlich schon die ganze Orthographie, die man zu beachten hat. Den Einblick in diese Systematik muss man den Kindern vermitteln, anstatt ihnen weiszumachen, die deutsche Orthographie sei so unregelmäßig. Das Gegenteil ist der Fall.“
Dazu musste ich etwas scheiben, was die FAZ dann auch am 26. November 2022 bei den Leserbriefen unter der Überschrift „Die Talfahrt geht immer weiter“ abgedruckt hat:
„Herr Becker-Mrotzek zeigt die Bedeutung des vorschulischen Bereichs auf und spricht etwas Wichtiges aus, nämlich dass mehr geübt werden muss. Als ehrenamtlicher Lese- und Rechtschreibtrainer habe ich Erfahrung mit mehr als 120 geförderten Schülern. Bei den Kindern, die ich übernehme, sitzen die Basisfertigkeiten im Lesen und Schreiben nicht. Die erwähnte frühe Förderung von Kindern mit Schwierigkeiten müsste halt flächendeckend eingeführt werden. Das bleibt aber ein Traum. Dazu würde die Überschrift des Artikels auch passen. Was Herr Becker-Mrotzek über die Rechtschreibung sagt, scheint mir allerdings etwas praxisfern zu sein. Zwar ist die deutsche Sprache im Vergleich zu vielen anderen relativ lautgetreu, aber wenn bei vielen Wörtern in den Kinderköpfen zu überlegen ist, wie das gehörte bzw. gedachte Wort buchstabengerecht zu schreiben ist, wie die Buchstaben mangels automatisierter Handschrift auf das Papier kommen, ob es Besonderheiten gibt, wie zum Beispiel das stumme h, das v, das ie oder die Auslautverhärtung, um nur einige zu nennen, und vor allen Dingen, was eigentlich inhaltlich gesagt werden soll, dann muss das kindliche Gehirn Multi-Processing leisten und ist überfordert. Es wird heute versäumt, vor dem freien Schreiben einen Wortschatz entsprechend der von Herrn Becker-Mrozek erwähnten Systematik rechtschreibgerecht aufzubauen und eine flüssige Handschirift einzuüben. Damit der Kopf frei für den Inhalt ist, müssen Handschrift und Rechtschreibung automatisiert ablaufen, können das aber bei vielen Schülern nicht, weil beide erst spät aufgepfropft werden. Man will, dass die Kinder früh ihre Kreativität beim freien Schreiben entfalten können. Und das gelingt im wahrsten Sinne des Wortes bei der Rechtschreibung. In ihrem „Ratgeber Rechtschreibprobleme LRS/Legasthenie“ stellen Dorothea Thomé und Prof. Günther Thomé schon 2010 fest: „Wenn man etwa dreißig Jahre alte Maßstäbe an die heutigen Rechtschreibleistungen anlegen würde, könnte man gut die Hälfte unserer Schüler als rechtschreibschwach bezeichnen!“ Die Talfahrt geht immer weiter, weil viele Pädagogen glauben, dass die für sie einfache Systematik der deutschen Sprache nebenbei und nachgelagert in Kinderköpfe gebracht werden kann.
Siegbert Rudolph, Oberasbach“
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