Standards in der Schule – notwendig oder übel?
Menschen brauchen keinen TÜV, meint eine bloggende Lehrerin (siehe unten) unter der Überschrift „Schädliche Standards“. Ich spare zwar nicht mit Kritik, wenn es um das Schulsystem geht. Aber das, was ich da gelesen habe, lässt mich fragen, ob es die in diesem Blog zum Ausdruck gebrachte radikal reformpädagogische Einstellung ist, die dazu führt, dass das Niveau im Lesen, Schreiben und Rechnen immer weiter sinkt.
Die Autorin meint, die Schule lehre viele lebensferne Inhalte und setze dafür auch noch Standards. Sie stellt dazu beispielhaft fest, dass Sie in ihrem Erwachsenenleben noch nie etwas über Satzglieder hätte wissen müssen, und dass sie die dann auch einfach hätte googeln können. Sie schreibt weiter: „Nichtsdestotrotz werden Satzglieder bis heute unermüdlich an jeder Schule ab Klasse 5/6 wochenlang gelehrt und gelernt.“ Ich will hier nicht alles aufzählen, was die Autorin in diesen Topf wirft, aber Wortarten und Gedichte analysieren dürfen da natürlich nicht fehlen. Seelenlose Inhalte seien das, eingetrichtertes Wissen, das man nur brauche, wenn man ein geisteswissenschaftliches Studium anstrebe. Einer Tischlerin zum Beispiel, so steht es im Blog, können „die Satzglieder von Herzen egal sein“.
Ich finde die Kompetenzorientierung in den Lehrplänen zwar auch für überzogen, aber nach meiner Meinung muss die Schule sicherstellen, dass unsere Kinder ein Grundwissen aufbauen und Fähigkeiten entwickeln, die ihnen und unserer Gesellschaft später nützen. Die Benotung sieht die Autorin als verletzend an. Sie schreibt, dass, wenn die Normen nicht oder nicht ausreichend erreicht werden, bei der Benotung „Entwertung und Erniedrigung“ mitschwingen. Dass das tatsächlich oft so ist, liegt aber nach meiner Meinung nicht an der Schule, sondern in erster Linie an den Eltern. Ich hatte damit nie ein Problem. Und ich habe auch manchmal schlechte Noten geschrieben. Schlechte Noten sind ein Indikator dafür, dass man etwas nachholen und sich mehr anstrengen muss. Wenn das geschieht, haben die Noten ihren Zweck erfüllt. So habe ich das in meiner Schulzeit gesehen. Und bin gut damit gefahren.
Zu Schulabschlüssen, so wird vorgeschlagen, gäbe es die Alternative, dass in Betrieben, Universitäten und Werkstätten Aufnahmegespräche stattfinden. Die Autorin fragt: „Wo kämen wir denn hin, wenn einfach jeder, unabhängig von seinen Leistungen in Deutsch, Mathe, Englisch, an der Uni studieren oder Arzt werden könnte …?! Ich glaube, wir kämen sogar ziemlich weit.“ Und sie meint: „Die ´Standardkompetenzen´ in Mathe, Englisch, Deutsch – Rechtschreibung, das kleine Einmaleins usw. – werden in Zukunft sowieso Computerprogramme übernehmen.“ Für mich klingt das alles sehr naiv. Gute Grundkenntnisse sind unverzichtbar, auch wenn man mit Computerprogrammen arbeitet. Wer das kleine Einmaleins nicht beherrscht, tut sich auch beim Verstehen großer Zahlen schwer. Und unser Bildungssystem ist offen und bietet viele Wege an, zum Ziel zu kommen. Aber, wo führt es hin, wenn „Kinder und Jugendliche aus vollem Herzen ´Nein!´ sagen dürfen. ´Dazu habe ich keine Lust!´ und dass ihr Stimme gehört und respektiert wird.“
Das Niveau sinkt
Die Autorin ruft die Lehrer auf, auf die Barrikaden zu gehen, um sich vom Joch der Lehrpläne und Kerncurricula zu befreien. Ich sage dazu: Ja, die Lehrer müssten auf die Barrikaden gehen, aber um darauf aufmerksam zu machen, dass das Niveau in unseren Schulen trotz ihrer Anstrengungen sinkt. Ich sehe das bei meinem Einsatz. Und in vielen Medien war zu lesen, dass rund ein Fünftel unserer Grundschüler Leseschwierigkeiten hat und dass die Rechtschreibung immer schlechter wird, um nur zwei Beispiele zu nennen. Aber das wird doch nicht besser, wenn man die Standards heruntersetzt oder ganz streicht. Jeder weiß, dass das Niveau eines Hochspringers sinkt, wenn er die Latte ständig niedriger legt oder weniger übt. Sich anzustrengen muss Freude machen. Darauf kommt es an.
Ich habe mich, als ich mich zum ersten Mal mit der Rechtschreibförderung befasste, gefragt, warum es beim Diktat nicht lauter Einser gebe. Ich hatte damals nämlich beim Durcharbeiten eines Buches mit Aufgaben aus dem Qualifizierenden Mittelschulabschluss in Bayern festgestellt, dass ein Diktat 70 bis 80 Wörter umfasst und fünfmal vorgelesen wird. Außerdem darf ein Wörterbuch benutzt werden. Kurz darauf wurde in Bayern die Benotung des Diktats abgeschafft. Ein Schelm, wer glaubt, dass das nicht mit den fortwährend schlechteren Ergebnissen zu tun hatte. Die Verantwortlichen wollten den Trend nach unten einfach nicht mehr sehen. Da passt ein Satz der Autroin wie die Faust aufs Auge. Sie schreibt, dass der sonderpädagogische Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen seit 2009 um 20 % (90.000 Schüler) angestiegen ist und fragt: „Brauchen 90.000 mehr junge Menschen eine spezielle Förderung, oder sollten etwa ein paar Standards überdacht werden?“ Ja, genau das ist geschehen. Und das Niveau sinkt weiter.
Die Autorin meint, man müsse Wortarten und Satzglieder nur dann lernen, wenn man ein geisteswissenschaftliches Studium anstrebe. Da irrt sie ganz gewaltig. Denn die Kenntnis der entsprechenden Regeln hilft uns, richtig zu formulieren und zu schreiben. Die Großschreibung zum Beispiel ist überhaupt kein Problem, wenn man die Wortarten beherrscht, wenigstens Nomen, Verb und Adjektiv. Und wenn man weiß, wie man nach diesen Wortarten fragt. Natürlich muss ich als Erwachsener, nicht wissen, welcher Wortart zum Beispiel das Wort „manche“ angehört. Aber dadurch, dass ich das mal gelernt habe, spreche und schreibe ich korrekt. Mein Fundament ist sicher. Aber was ist mit den Kindern, die diese Dinge nicht mehr richtig bzw. gar nicht lernen, denen schon der bloße manuelle Schreibvorgang die volle Konzentration abverlangt? Sie erreichen nie eine Sicherheit in Wort und Schrift. Dadurch haben sie Nachteile im Leben, auch als Tischlerin, um auf Frau Göckings Beispiele zurückzukommen. Die Tischlerin will vielleicht später die Meisterprüfung ablegen, selbst Texte für ihre Internetseite schreiben, E-Mails von Kunden richtig beantworten usw.
Man kann beobachten, wie die Rechtschreibregeln schwammiger werden, weil immer mehr Menschen nicht mehr richtig schreiben können. Da der Duden die häufigste Schreibung als die richtige ansieht, ist das wirklich ein Problem. Nomen sind Namen und Bezeichnungen. Wenn man aber lernt, Nomen kennt man daran, dass man sie anfassen oder sehen kann und dass sie einen Artikel haben, der auch versteckt sein kann, dann lernt man das Thema Nomen einfach nicht richtig. Heute werden nicht nur Nomen, also Namen und Bezeichnungen großgeschrieben, sondern eine ganze Menge an adverbialen Bestimmungen, die nichts mit Namen oder Bezeichnungen zu tun haben. Warum, weil viele Menschen glauben, bei (zum Beispiel) „im voraus“ wäre ein versteckter Artikel enthalten, nämlich „in dem Voraus“, weshalb großzuschreiben sei, obwohl das keiner so formulieren würde. Den Voraus gibt es als Nomen nur in der Juristerei. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Die Regeln werden immer verwaschener und damit schwieriger zu erklären, zumal die neuen, falschen Schreibungen eine Zeit lang parallel zu den bisherigen gelten, ehe sie die „Alleinherrschaft“ übernehmen.
Dass das keine Gejammere eines ehrenamtlichen Lesetrainers ist, zeigt eine Überschrift in der Zeitschrift „bayerische Schule“ vom 30. September 2019: „Hochschulen: Gravierende Mängel bei Studierfähigkeit von Abiturienten“. Unter anderem heißt es: „Längere Texte zu lesen und zu schreiben, falle den Studierenden schwerer.“ Das ist keine ganz neue Erkenntnis. Neulich hat eine Lehrerin in Facebook gepostet, dass sie ein Schüler arg in Verlegenheit brachte, und zwar mit der Frage, wann Sie denn das letzte Mal eine Erörterung hätte schreiben müssen. Sie gab zu, dass das jahrzehntelang nicht der Fall war. Warum hat sie nicht geantwortet, dass sie diese Fähigkeit jeden Tag brauche, z.B. wenn sie etwas postet, einen Brief oder ein Mail beantwortet oder eine Anzeige aufgibt?
Was tun?
Ich habe kein Patentrezept. Als ehrenamtlichen Lesetrainer kann man das auch nicht von mir erwarten. Aber ich sehe, was in der Praxis schiefläuft und was so nicht bleiben kann.
Kinder müssen nach der Grundschule gut lesen und schreiben sowie rechnen können. Die Grundschule hat es nicht so leicht, wie zu meiner Schulzeit. Die Kinder sind beim Schuleintritt in ihrer Entwicklung bis zu vier Jahren auseinander. Und sie bringen immer öfter Probleme bzw. Störungen mit. Dafür gibt es jetzt immer öfter Schüler mit Schulbegleitern. Schulpsychologen werde dringend gesucht. Lehrer als Lernbegleiter lösen das Problem auch nicht. Denn viele Kinder brauchen eine Anleitung. Das alles berücksichtigt der Stellenplan für die Grundschulen leider nicht. Auch in die vorschulische Förderung müsste mehr investiert werden. Schließlich sind es – gewollte – gesellschaftliche Veränderungen, die verkraftet werden müssen.
Beim Schreiben wird die Fehlentwicklung am deutlichsten. Mit „Lesen durch Schreiben“ bzw. Schreiben nach Gehör fing das Unglück an. Erstklässler müssen laut Lehrplan eigene Texte schreiben, obwohl sie den Stift noch nicht richtig zu halten und die Handschrift noch nicht gelernt haben. Sie können nur Druckbuchstaben abmalen und die Wörter noch nicht richtig schreiben. Da stimmt die Reihenfolge nicht. Der kurzfristige Erfolg, das Aha-Erlebnis, selbst etwas hinkritzeln und „kreativ“ sein zu können, wird für viele Kinder später zum Albtraum. Was man von Anfang an nicht richtig lernt, ist später schwer zu korrigieren, das ist bei anderen Aktivitäten unbestritten. Beim Schreibenlernen aber blenden die Reformpädagogen den gesunden Menschenverstand aus. Richtig wäre, zuerst eine flüssige Handschrift durch intensives Üben zu entwickeln und dabei viel und richtig zu schreiben. Dann kann man darauf aufbauen, und es ist dann viel leichter, freie Texte richtig zu schreiben. (Und dann kann man auch das Tastschreiben leichter erlernen.) Der Lehrplan müsste hier ziemlich umgekrempelt werden.
Es gibt immer mehr Kinder, denen eine Legasthenie und/oder eine Dyskalkulie bescheinigt wird. Sie werden als krank abgestempelt und bekommen Nachteilsausgleich. (In Bayern gibt es den nur bei der Legasthenie!) Legasthenie und Dyskalkulie sind aber nicht gottgegeben. Manche Kinder brauchen halt etwas länger und mehr Unterstützung als andere. Wenn sie die nicht bekommen, lernen sie diese Basistechniken nie richtig. Hier müsste man ansetzen. Wenn Legasthenie oder Dyskalkulie mit Nachteilsausgleich bescheinigt wird, sollte das mit der Verpflichtung einer individuellen Förderung einhergehen und zeitlich begrenzt sein. Die Schulen sollten die Möglichkeit haben, entsprechende Förderungen auch ohne Bescheinigung schon in den ersten beiden Klassen anzustoßen.
Die Autorin sagt zum Schluss ihres Blogbeitrags: „Wir (… die Lehrer …) dürfen Flügel verleihen, aber nicht stutzen.“ Das klingt gut. Sie meint aber, dass das, was jemand für lernenswert erachtet, einzig und allein von ihm/ihr selbst abhänge, und von niemandem sonst. Ich meine, es wäre unverantwortlich, wenn wir Erwachsenen, Lehrer, Eltern und Trainer, die Kinder nicht anleiten würden, das zu lernen, was Ihnen später die Möglichkeit der Teilhabe an unserer Gesellschaft und eine freie Entfaltung ermöglicht.
Im Oktober 2019 – Siegbert Rudolph
Bezug: http://schule-neu-denken.de/schulische_standards/ vom 14. Februar 2019 – Schädliche Standards: Was Lernziele und Lehrpläne bewirken
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