Lesen – ein Traum
Für viele Kinder bleibt Lesen ein Traum. Für manche wird es im Verlauf ihrer Schulzeit sogar zum Albtraum. Auf der ersten Version meiner Internetseite 2011 platzierte ich dazu ein einfühlsames Gedicht von Gabriele Brunsch über die schier unüberwindbaren Schwierigkeiten mancher Menschen beim Erwerb der Lesefähigkeit. Dort heißt es in einem Absatz:
„Buchstaben sind Steine und felsige Brocken,
aber die Worte, der Klang und der Duft
bleiben versteckt hinter nebligen Schranken,
stumpf sind sie, blind, in lichtloser Luft.“
Ich kenne Kinder, von denen diese Worte stammen könnten. Ein Junge hat gleich zu Beginn unseres Trainings zu mir gesagt:
„Es kann doch keinen einzigen Menschen auf der Welt geben, der gern liest.“
Heute, nach rund 14 Jahren Erfahrung in der Leseförderung, weiß ich, wie treffend auch der letzte Absatz des Gedichtes ist. Das, was die Autorin da sagt, muss das Motto für jedes Lesetraining sein, wobei ich die letzte Zeile mit Zustimmung der Autorin für meine Seite geändert habe:
„Sei nicht verzagt, wir steigen ganz langsam,
gemeinsam gehen wir Schritt für Schritt,
von Stein zu Stein, von hier nach dort,
und pusten den Nebel, die felsigen Hürden,
mit unseren Übungen ganz einfach fort.“
Im Originaltext werden der Nebel und die felsigen Hürden mit „unseren Träumen“ weggepustet.
Lesen muss kein Traum bleiben
Lesen zu können, das muss für niemanden nur in den Träumen möglich sein. Manchmal sind aber wirklich „Steine und felsige Brocken“ im Weg. Zum Beispiel, wenn die Blickrichtung von Natur aus anders ist und immer wieder versucht wird, Buchstaben in der Reihenfolge von rechts zu lesen, aber auch, wenn sich das Kind am Anfang eine falsche Lesestrategie angewöhnt hat, um schneller zu sein, als es seiner Fertigkeit entspricht. Raten beim Lesen ist eine Sackgasse. Gerade am Anfang des Leselernprozesses wäre es am leichtesten zu helfen. Aber genau da wird oft vergebens auf ein Wunder oder Testergebnisse gewartet, obwohl wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass bei einer gezielten Frühförderung in der ersten Klasse Leseschwierigkeiten im Keim erstickt werden. Ein Projekt der LMU in München hat das wissenschaftlich belegt. Leider gibt es eine flächendeckende Frühförderung nur in meinen Träumen und nicht im Räderwerk der Kultusbürokratie.
Individuelle Förderung
Dass die individuelle Lese- und Rechtschreibförderung immer wichtiger wird, das zeigen PISA und IGLU überdeutlich. Seit 2011 steigt die Zahl der Kinder mit Problemen. Bei Veröffentlichung der Studie ging jedes Mal ein kurzes Rauschen durch die Medien. Passiert ist (fast) nichts. Mich hat das an den Film „Und wieder grüßt das Murmeltier“ erinnert. Jetzt versucht man endlich gegenzusteuern. Es gibt endlich mehr Lautlesezeiten und das Startchancenprogramm. Gute Maßnahmen, aber Praktiker wissen, dass mehr getan werden müsste, zum Beispiel böte eine zweite Lehrperson in der Klasse die echte Chance, einzelne Kinder gezielt zu fördern. Dafür hat unser Staat aber kein Geld bzw. gibt es für andere Dinge aus, die wir als Wähler in Summe wohl besser goutieren.
Vorschule
Die Vorschule wird immer wichtiger. Verpflichtende Sprachtests sollen kommen. Gut, aber besser wäre eine Klasse null, die die Kinder schulreif macht. In einem Leitartikel der FAZ habe ich gelesen, dass einer Untersuchung im Jahre 1907 zufolge zweijährige Kinder einen Wortschatz von 200 bis 300 Wörtern hatten. Zitat: „Heute stellen Kinderärzte bei Zweijährigen einen Wortschatz von fünfzig Wörtern fest. Nicht immer sind das Folgen einer familiären Migrationsgeschichte und einer anderssprachigen Kommunikation zu Hause.“ Kinder hören immer häufiger nur das unvollkommene Deutsch anderer Kinder statt richtiges Deutsch von Erwachsenen, zum Beispiel ihren Eltern, die sich oft lieber mit dem Smartphone beschäftigen als mit ihrem Nachwuchs. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderungen auf die Kinder sind gravierend. Die Schule ist darauf nicht vorbereitet und wird es wohl auch nicht so schnell sein. Wenig förderlich ist zudem, dass für den Vorschulbereich und für die Schule unterschiedliche Ministerien, oft von einer anderen Partei besetzt, zuständig sind.
Lehrplan
Auch der Lehrplan sollte nicht sakrosankt sein. Hier kommt es darauf an, sich auf das Wichtige zu konzentrieren. Statt an den kreativen Fächern zu knapsen, würde ich Englisch in der Grundschule streichen. Warum? Weil die weiterführenden Schulen wieder bei null anfangen. Lehrern und Schulleitern wäre die dritte Stunde in Religion nicht so heilig wie dem bayerischen Ministerpräsidenten. Mit meiner Forderung auf eine Rückbesinnung auf das intuitive Lernen mache ich mir sicher nicht viel Freunde. In meinem Blog „Rechtschreiberwerb ohne Ende“ zitiere ich einen Wissenschaftler: „Die neurologische Lernforschung der letzten Jahrzehnte hat zeigen können, dass die wesentlichen Lernprozesse des menschlichen Gehirns auf Induktion beruhen.“ In der Grundschule setzt man heute auf Deduktion. Und das führt dazu, dass sich der Rechtschreiberwerb bis weit über die Sekundarstufe hinaus fortsetzt. Viele Kinder sind mit Regeln und Ausnahmen, an die sie beim Schreiben denken sollen, überfordert. Verschärft wird dieses Problem durch die Qualen, die vielen Schülern der Schreibvorgang an sich bereitet. Die Handschrift wurde in der Lehre vernachlässigt, weil man es den Kindern leichter machen wollte. Hier hat sich, wie so oft, ein kurzfristiger Vorteil als langfristig hoch problematisch herausgestellt. Der Handschrift muss wieder mehr Bedeutung eingeräumt werden. Sie gehört zu den Basisfertigkeiten. Man baut auf Sand, wenn das Fundament nicht sitzt. In Bayern hat man das erkannt, wie ich im Schulamt erfahren habe. Auf die Umsetzung der vorgestellten Maßnahmen für eine leichtere, flüssige Handschrift bin ich gespannt. Verbesserungen wären sicher auch möglich, wenn eine gezielte, geförderte Zusammenarbeit von Schule und Lerntherapeuten oder Lesepaten stattfände. Der bayerische LehrplanPLUS sieht eine Vernetzung mit weiteren Bildungspartnern sogar vor. Nur, Geld steht dafür meist nicht zur Verfügung.
Mein Ziel
Mit meiner überarbeiteten Internetseite der-lesekoch.de hoffe ich, alle Menschen, die sich für die Förderung von Kindern beim Erwerb der Lese- und Rechtschreibkompetenz engagieren, mit Informationen und Übungen noch besser als bisher zu unterstützen. Ich kann aber nur einen kleinen Beitrag leisten. Am wichtigsten ist, dass Sie Ihren Schützlingen Mut machen und mit Geduld vorangehen.
Wie anfangen?
Das werde ich oft gefragt. Ein Patentrezept müsste her. Mein Ansatz ist: motivieren, vereinfachen, wiederholen und vertiefen!
Alleine die Vereinfachung ist für viele Schüler schon motivierend. Endlich gibt es ein Erfolgserlebnis. Mein Rezept passt zwar immer, aber bei jedem Schüler sieht die Umsetzung ein bisschen anders aus. Lösungsansätze skizziere ich im Menüpunkt Leseförderung/Typische Leseprobleme. Neu erstellt habe ich eine Übersicht über alle Übungsarten in meinem System im Menüpunkt Leseförderung/Übungsarten.
Wenn Sie Fragen oder Anregungen haben, schreiben Sie mir über das Kontaktformular. Die Lese- und Rechtschreibförderung ist meine nachberufliche Beschäftigung, quasi mein Hobby.
Ich arbeite ehrenamtlich, freue mich über jeden Austausch und wünsche allen, die Kindern beim Lese- und Rechtschreiberwerb helfen, viel Erfolg!
September 2024 – Siegbert Rudolph
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Blog – Phänomen beim Lesen – Leseversuche von rechts
Blog – Raten beim Lesen – eine Sackgasse
Blog – LVL Bayern – Interdisziplinäre Fachtagung – Fördern, wenn nötig!
Blog – Und wieder grüßt das Murmeltier
Blog – Rechtschreiberwerb ohne Ende
FAZ vom 14. August 2024, Seite 1, Sprachdefizite sind Bildungsbarrieren von Heike Schmoll
Menü – Typische Leseprobleme
Menü – Übungsarten
Gabriele Brunsch: Lesen ein Traum
Worte sind Blumen, das Moos, ein Falter,
Worte sind Bäume, sind Blätter im Wind,
Worte sind Farbe, tiefdunkel und hell,
Worte sind Blüten an bebenden Zweigen,
Worte sind Funkeln am plätschernden Quell.
Worte sind Klänge, ein Zwitschern, ein Hall,
Worte sind Gärten: sie duften, sie leben,
sind ein Geheimnis aus Zauber und Schall.
Der Text ist ein Berg aus Felsengestein,
Irrgarten aus Steinen, da sollst du hinein.
Jemand sagt, „Steig da hinauf, steig auf den Berg,
du wirst mit jedem Schritt atmen:
die Blumen, den Duft, die Farbe, die Pracht!
Die Welt wird sich öffnen, mit Wunder und Macht!
Nur zu… versuch es… es ist nicht schwer!
Am Fuße des Berges ist’s öde und leer!“
Buchstaben sind Steine, sind felsige Brocken,
am Hang des Berges! Nicht achtlos verstreut,
formlos bizarr, in endlosen Linien,
liegen sie da, auf dem Weg aufgereiht,
lauern gestaltlos, mit dunkler Gebärde,
hindern den Schritt, verdunkeln die Sicht.
Mit stolperndem Tapsen beginnst du zu gehen.
Du möchtest nicht weiter, ein Ziel siehst du nicht.
Du gehst ein paar Schritte, du willst hinauf,
doch diese Steine behindern den Lauf.
Da ein Stein und dort ein Stein!
Die sollen dich lenken?
Das kann doch nicht sein!
Da ist dieser Nebel,
düsterer, grau-brauner dichtester Dunst,
den zu durchdringen, das ist die Kunst.
Nichts siehst du mehr, was soll denn das?
Nur wirre Spuren, das macht keinen Spaß!
Dann bist du oben, du fühlst dich so leer,
am Gipfel des Berges, der Aufstieg war schwer!
Buchstaben sind Steine und felsige Brocken,
aber die Worte, der Klang und der Duft
bleiben versteckt hinter nebligen Schranken,
stumpf sind sie, blind, in lichtloser Luft.
Du, ich setz mich zu dir und lese dir vor…
Worte von Farben, von gelb, grün und blau,
Worte vom Licht, das sich spiegelt im Tau,
Worte vom Mut, von Freiheit und Pflicht,
vom Vogel am Nestrand:
„Flieg ich jetzt … oder flieg ich noch nicht!“
Sei nicht verzagt, wir steigen ganz langsam,
gemeinsam gehen wir Schritt für Schritt,
von Stein zu Stein, von hier nach dort,
und pusten den Nebel, die felsigen Hürden,
mit unseren Träumen ganz einfach fort.
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