Lehrkräfte werden verunsichert, Eltern aufgebracht und Kinder demotiviert! Das hört man über den aktuellen Erlass des bayerischen Kultusministeriums zur „angemessenen Bewertung“ der Rechtschreibung in allen Fächern. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Zeugnisvermerken soll die Ursache für diese Maßnahme sein.
Dass das Ministerium seit dem überflüssigen Prozess beim Bundesverfassungsgericht versucht, möglichst alle schulischen Vorgehensweisen gerichtsfest zu machen, ist verständlich. Dem Bundesverfassungsgericht ging es um Transparenz im für viele unerwarteten Sinn: Diejenigen, die sich für die Rechtschreibung anstrengen (oder sie einfach beherrschen) dürfen nicht gegenüber denjenigen benachteiligt werden, deren Rechtschreibung nicht bewertet wird.
Allerdings erschließt sich mir der Bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht. Wenn in einem anderen Fach als Deutsch die Rechtschreibung „angemessen“ mit in die Bewertung einfließt, dann führt das dazu, dass diejenigen, bei denen die Rechtschreibung nicht berücksichtigt wird, leichter eine bessere Note bekommen. Trotz eines Zeugnisvermerks wird das zu Intransparenz führen. Echte Transparenz gäbe es nur bei einer gesonderten Note für die Rechtschreibung. Als Liebhaber der deutschen Sprache würde mir das zwar nicht gefallen, aber es würde die Sachleistungen vergleichbar machen.
Ob und wie die Rechtschreibung bei anderen Fächern als Deutsch in die Benotung einfließen soll oder nicht, darüber kann man trefflich streiten. In der jetzigen Situation ist die aktuelle Maßnahme eine Zumutung, denn die Rechtschreibfertigkeit im heutigen Schulsystem wird über Jahre hinweg erworben, und die schwache Rechtschreibung so vieler Schüler hängt auch mit der Lehre in den Grundschulen zusammen. Eine Verschärfung in der Bewertung der Rechtschreibleistung können die Schüler nicht von heute auf morgen auffangen. Sie schreiben ja nicht bewusst falsch. Die Rechtschreibung zu verbessern, ist ein zeitaufwendiger Prozess, weil die Grundlage dieser Fertigkeit ganz am Anfang nicht systematisch gefestigt wurde. Für Grundschüler in der vierten Klasse ist dieser Erlass besonders dramatisch. Vielleicht hat der Erlass etwas mit der PISA-Offensive Bayern zu tun, in der es nach FiLBY jetzt noch FiSBY für die Rechtschreibung geben soll.
Talfahrt
Die Rechtschreibung befindet sich seit Jahrzehnten auf einer Talfahrt. Prof. Günther Thomé und Dr. Dorothea Thomé stellten schon 2010 in ihrem Ratgeber Rechtschreibprobleme fest: „Wenn man etwa dreißig Jahre alte Maßstäbe an die heutigen Rechtschreibleistungen anlegen würde, könnte man gut die Hälfte unserer Schüler als rechtschreibschwach bezeichnen!“ Besonders eindrucksvoll ist auch die Untersuchung von Prof. Steinig, Universität Siegen, aus dem Jahr 2013.
Seit 2012 ist der Wert bestimmt nicht gesunken. Die aktuelle Maßnahme verwundert umso mehr, als sie plötzlich in eine ganz andere Richtung als bisher geht. Die Latte wurde in den letzten Jahren immer niedriger gelegt. 2016 zum Beispiel wurde das Diktat als Leistungsmessung für die Rechtschreibung abgeschafft. Dass zur Leistungsmessung der Rechtschreibung keine Diktate mehr geschrieben werden dürfen, zeigt, dass man im Ministerium sehr wohl die Rechtschreibkatastrophe gesehen hat. Sie sollte aber nicht so augenfällig werden. Deutet die angemessene Bewertung der Rechtschreibung in allen Fächern nun ein Umdenken an?
Es geht um Grundsätzliches
Es mag viele Gründe geben, die zur schwächer gewordenen Rechtschreibung beitragen. Ursächlich dürfte aber die Umstellung der Lehre vom induktiven Lernen zur Deduktion sein.
Zu meiner Schulzeit haben wir die Rechtschreibung induktiv gelernt. Das heißt, dass wir zwei Jahre lang abgeschrieben haben, manchmal die Texte auch mehrfach. Dabei haben wir sowohl eine verbundene, leichtgängige Schrift eingeübt als auch die Verschriftung der Wörter gelernt. Das Wort „Hund“ habe ich so oft geschrieben, dass ich nie auf die Idee gekommen wäre, es am Ende mit „t“ zu verschriften. Die Regel zur Auslautverhärtung (und andere Rechtschreibregeln) haben wir in der Volksschule nicht gebraucht. Eigene Texte haben wir viel später verfasst als das heute der Fall ist. Die waren rechtschriftlich weitgehend in Ordnung. Unsere Fehler mussten korrigiert und drei- bis fünfmal richtig wiederholt werden. Ein Beispiel von mir aus der 3. Klasse zeigt den 2. Teil des Aufsatzes auf der linken Seite, rechts die Verbesserung der Fehler und dann den Anfang der kompletten Neuschreibung, die fehlerfrei sein sollte:
Das induktive Lernen empfanden die modernen Pädagogen als zu langweilig und unzumutbar für die Kinder. Die Kreativität sollte gefördert werden. Und damit wollte man nicht warten, bis eine verbundene Handschrift und die Rechtschreibung erlernt wurden. Um die Schreibmotivation der Kinder zu fördern, ließ man sie drauflosschreiben, und zwar ohne Punkt und Komma und sonstige Einschränkungen. Die Buchstaben für die Texte wurden aus einer Anlauttabelle (auch Schreibtabelle) entnommen. Weil die Kinder die Schreibung der Wörter nicht wissen können, mussten sie nach Gehör schreiben. Aber die deutsche Sprache ist nicht lautgetreu. Und deshalb mussten Regeln gelernt und viele Ausnahmen gemerkt werden. Diese Methode ist viel anspruchsvoller und anstrengender als das induktive Erlernen durch Nachahmung.
Dazu ein Zitat von Dr. Hans Georg Müller, Dozent an der Universität Potsdam:
„Die neurologische Lernforschung der letzten Jahrzehnte hat zeigen können, dass die wesentlichen Lernprozesse des menschlichen Gehirns auf Induktion beruhen, sprich: Wir sind physiologisch ausgezeichnet darauf vorbereitet, aus einer Vielzahl von Beispielerfahrungen auf eine allgemeine Regel zu schließen, welche fortan unser Verhalten steuert (vgl. etwa Spitzer 2014, Rösler 2011).“
Im LehrplanPlus für die Grundschule in Bayern steht auf Seite 32:
„In der Grundschule erhalten die Schülerinnen und Schüler durch Unterstützung (z.B. von der Lehrkraft oder Mitschülerinnen und Mitschülern) bereits ab Schulbeginn die Möglichkeit, eigene kleine Texte (Wörter, Sätze) zu verschriften, um ihnen die Bedeutung von Schrift für die Kommunikation eigener Erfahrungen anschaulich zu machen und eine grundlegende Schreibmotivation aufzubauen. Die Lehrkraft ergänzt die Texte der Schülerinnen und Schüler im Anfangsunterricht durch die regelgerechte Schreibweise und zeigt so die Unterschiede zwischen der Schreibung des Kindes und der rechtschriftlichen Schreibweise auf. Sie wirkt von Anfang an darauf hin, dass normgerechte Schreibungen nach den im Lehrplan vorgesehenen Prinzipien systematisch eingeübt werden.“
Das Problem dabei: Die eigenen Texte der Kinder und damit die rechtschriftlichen Korrekturen werden wohl kaum irgendeiner Rechtschreibsystematik unterliegen. Hinzu kommt im LehrplanPlus auf Seite 33 folgender Hinweis:
„Rechtschreibübungen finden nicht isoliert und ohne Anwendungsbezug statt, sondern sind eingebunden in sinnvolle Kontexte wie das Verfassen und Überarbeiten eigener und gemeinsamer Texte. Die Lehrkraft weist bereits im Anfangsunterricht auf normgerechte Schreibungen hin.“
Das ist der große Denkfehler der Lehrplanverfasser. Es kann so nicht eine Regel nach der anderen gelehrt werden. Die Systematik für gezieltes Lernen einzelner Regeln und deren Ausnahmen geht verloren. Die Regeln festigen sich nicht und Ausnahmen verunsichern. Mit meinen Schülern machte ich erfolgreich isolierte Rechtschreibübungen, zum Beispiel mit der Kartentechnik, um Merkwörter systematisch zu üben, oder mit einer Batterie von Beispielsätzen, um eine bestimmte Rechtschreibregel gezielt zu festigen. Wir konzentrieren uns auf eine Rechtschreibregel und lassen Fehler, die andere Regeln betreffen, oft außen vor.
Handschrift sträflich vernachlässigt
Am Anfang einer jeden Rechtschreibförderung muss die Frage stehen: Ist die Handschrift leichtgängig und flüssig?
Die Rechtschreibmisere wird nämlich verschärft durch die Qualen, die vielen Schülern der Schreibvorgang an sich bereitet. Die Handschrift wurde in der Lehre vernachlässigt, weil man es den Kindern leichter machen wollte. Hier hat sich, wie so oft, ein kurzfristiger Vorteil als langfristig hoch problematisch herausgestellt. Der Handschrift muss wieder mehr Bedeutung eingeräumt werden. Sie gehört zu den Basisfertigkeiten. Man baut auf Sand, wenn das Fundament nicht sitzt. In Bayern hat man das erkannt, wie ich im Schulamt erfahren habe. Auf die Umsetzung der vorgestellten Maßnahmen für eine leichtere, flüssige Handschrift bin ich gespannt. Verbesserungen wären sicher auch möglich, wenn eine gezielte, geförderte Zusammenarbeit von Schule und Lerntherapeuten oder Lesepaten stattfände. Der bayerische LehrplanPLUS sieht eine Vernetzung mit weiteren Bildungspartnern sogar vor. Nur, Geld steht dafür meist nicht zur Verfügung.
So lange sich ein Kind mit der Handschrift plagen muss, kann es sich nur unzureichend auf die Rechtschreibung konzentrieren. Gefordert wird vom Kind Unmögliches, nämlich Multiprozessing im Gehirn. Das muss überlegen, was es schreiben will, wie die Rechtschreibregeln dazu lauten und wie die Buchstaben zu Papier gebracht werden. Deshalb ist es so wichtig, dass Handschrift und Rechtschreibung automatisiert sind. Und das passiert nur bei genügend Übung.
Große Unterschiede beim Schuleintritt
Hinzu kommt, dass die Kompetenzbandbreite der Kinder bei Eintritt in die Schule immer größer wird. Die Schule war und ist darauf nicht ausreichend vorbereitet. Allerdings gibt es jetzt ernsthafte Ansätze, zum Beispiel verpflichtende Sprachtests oder die Klasse null. Es bleibt aber abzuwarten, ob es dafür die notwendigen Mittel in den Haushalten der Länder geben wird. Das Fachpersonal ist sowieso ein Engpass.
Ist Rechtschreibung wirklich wichtig?
Ich meine, dass Rechtschreibung ein wichtiger Teil unseres Sprachsystems ist. Rechtschreibung trägt zur besseren Verständlichkeit bei. Wer die Konventionen nicht einhält, zollt seinen Lesern wenig Respekt. Wenn ich in Internetforen unterwegs bin, gewinne ich allerdings den Eindruck, dass vielen Autoren und auch den Lesern dieses Thema egal ist. Das Internet fördert die Oberflächlichkeit. Umso wichtiger ist es, dass in der Schule auf Rechtschreibung Wert gelegt wird.
Andererseits: Rechtschreibkorrekturprogramme, insbesondere die KI, beherrschen die Regeln ziemlich sicher. Warum also mühsam etwas erlernen, was ein Programm übernehmen kann? Solche Überlegungen werden tatsächlich angestellt. Mir kommt das ähnlich naiv vor, wie die Meinung, es wäre Zeitverschwendung, ein Gedicht zu erlernen, das man nach der Schule nie wieder aufsagen wird. Aber, die erwähnten technischen Möglichkeiten lassen einen Zeugnisvermerk auf Nichtbewertung der Rechtschreibleistung nicht mehr so problematisch erscheinen. Und das ist doch gut!
Wenn die Schulbehörde die Bedeutung der Rechtschreibung ernst meint, wäre beim derzeitigen Rechtschreibniveau die Bewertung der Rechtschreibung in allen Fächern der letzte Schritt. Anfangen müsste man bei den Grundlagen. Notwendig ist es, sich für deren Festigung wieder die Zeit zu nehmen, die der Erwerb dieser Fertigkeit braucht und dazu passende Methoden anzuwenden. Zu früher Aktionismus ist in keiner Disziplin förderlich.
Oktober 2024 – Siegbert Rudolph
News for Teacher – Kultusministerin verunsichert Lehrkräfte mit Erlass, Rechtschreibung nun in allen Fächern „angemessen“ zu bewerten
Rechtschreibung – didaktische Hinweise für die Sekundarstufe – Dr. Hans-Georg Müller, Dozent an der Universität Potsdam, Rechtschreibung – didaktische Hinweise für die Sekundarstufe – Zentrum für Sprachbildung, Berlin
Siehe auch folgende Beiträge auf der-lesekoch.de
Benachteiligung durch Notenschutz
Rechtschreibkompetenz – Die Talfahrt geht immer weiter
Siehe auch den Blog meines Netzwerks Kompetenzzirkel Lernen: Warum die Handschrift in der Grundschule den Schlüssel zum schulischen Erfolg bildet
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