Silben aus der Hölle
So verwirrt man Kinder durch eine undurchdachte Regel zur Bestimmung der Vokallänge!
Triggerwarnung:
Einige Passagen im Text könnten auf Lehrkräfte verstörend wirken.
In einem Schulbuch (Quelle unten) unterhalten sich zwei schlaue Kinder:
Fünf Seiten weiter gibt es Wörter mit ck und folgende Aufgabe:
Stellen wir uns vor, im Buch wären die beiden Schlauköpfe von oben weiter aktiv. Was würden die jetzt wohl sagen?
Und, ähnlich wie ihr, haben schon viele Schüler reagiert. Auch ich wurde, als ich noch mit Duden-Silben arbeitete, von Schülern auf diese Unstimmigkeit angesprochen. In meinem Netzwerk, dem Kompetenzzirkel Lernen, ist das ebenfalls immer wieder ein Thema, weil manche Trainingskinder mit dieser Silbenregel zur Vokallänge nicht klarkommen.
In eurem Schulbuch werden zwei Methoden dargestellt, wie lange Vokale (mit Strich gekennzeichnet) und kurze Vokale (mit Punkt gekennzeichnet) unterschieden werden können.
Richtet euch nur nach dem Merksatz eures Buches:
Beispiele: Wasser, Kasten, Masse, Raster.
Alle vier Wörter haben ein kurzes a. Nach dem a kommen immer zwei Konsonanten. Bei Kasten und Raster hört man diese zwei Konsonanten. Bei Wasser und Masse hört man beim normalen Sprechen der Wörter nur ein s. Das Doppel-s im geschriebenen Wort signalisiert euch, dass ihr den Vokal davor beim Lesen nur kurz klingen lassen dürft. Ohne diesen Doppelvokal wäre der Vokal lang zu sprechen. Beim Schreiben müsst ihr prüfen, ob nach einem kurzen Vokal zwei Konsonanten zu hören sind. Hört ihr nur einen, wie bei Wasser, müsst ihr den Konsonanten, hier das s, verdoppeln.
Bei Verben gilt diese Regel für die Grundform, Beispiel schwimmen. Bei den Ableitungen, zum Beispiel schwimmt, hört man nach dem kurzen i zwar ein m und ein t, der Doppelkonsonant aus der Grundform bleibt aber erhalten.
Haltet euch an die im Buch gezeigte Kennzeichnung der Wörter:
So, wie in eurem Buch beschrieben, setzt ihr unter die Konsonanten nach dem Vokal ein x. Bei mehr als einem x kennzeichnet ihr den Vokal mit einem Punkt für einen kurzen Vokal, bei nur einem x mit einem Strich für einen Vokal mit langem Klang.
Damit kommt ihr bei zweisilbigen Wörtern zum richtigen Ergebnis.
Wenn der Vokal kurz klingt, müssen mindestens zwei Konsonanten folgen. Deshalb die Regel: Hörst du nach einem kurzen Vokal nur einen Konsonanten, musst du ihn verdoppeln. Bei k und z gilt zu beachten, dass aus k ck und aus z tz wird.
Für eure Lehrer und die Autoren eures Schulbuchs habe ich noch ein paar Hinweise:
Der Irrtum mit den Duden-Silben
Unsere gewachsene Sprache lernt man am besten durch Nachahmen. Ein sechsjähriges Kind, das in einer kommunikativen Familie aufgewachsen ist, spricht ein einwandfreies Deutsch, ohne eine einzige Regel zu kennen. Nachahmen heißt da das Lerngeheimnis. Zu meiner Schulzeit hat man die Rechtschreibung noch intuitiv, also durch viel Abschreiben und Wiederholen gelernt. Heute lehrt man Regeln und versucht, die Rechtschreibung logisch zu erklären. Das geht nicht ohne Ausnahmen zu machen. Die Regel mit offenen und geschlossenen Silben zur Bestimmung der Vokallänge funktioniert mit den in der Schule gelehrten Silben nach dem Duden nur sehr eingeschränkt.
Bei den Duden-Silben geht es nur um ein spezielles Rechtschreibthema und schon gar nicht um Leseunterstützung. Die Duden-Silben sind für die Worttrennung am Zeilenende da. Im Duden steht bei Wasser:
Von Silben ist da keine Rede, nur von Worttrennung!
Die Worttrennungen legten die Setzer an den Setzmaschinen vor vielen Jahre fest. Nachzulesen bei Prof. Thomé (Quelle unten). Die Buchdrucker haben sich um die Leseförderung keine Gedanken gemacht und Laute, die mit zwei Buchstaben verschriftet werden, einfach auf zwei Zeilen verteilt. Was sollten sie zum Beispiel bei den Wörtern Junge oder Schnecke tun? Nur das e abzutrennen, was sprachlich richtig wäre, hätte für die Zeilentrennung keinen Sinn gemacht. Deswegen kam es zur Worttrennung Jun-ge, bei der der Laut ng zerrissen wird, und Schne-cke, bei der durch die offene Silbe ein langer Vokal vorgegaukelt wird. Dass es beim Duden nicht um Silben geht, sieht man auch an Wörtern wie aber:
Eine Silbe hat nur einen Vokal. Im Wort aber gibt es deren zwei. In Schulbüchern habe ich gesehen, dass man bei solchen Wörtern, Esel wäre ein weiteres Beispiel, inzwischen vom Duden abweicht. Zu Beginn meiner Leseförderung vor mehr als 10 Jahren, hatte mir ein Schüler gesagt, er hätte in der Schule gelernt, dass es Silben mit einem Buchstaben nicht gäbe.
Die Worttrennkennungen des Dudens, so bezeichne ich die Duden-Silben inzwischen, sind in fast allen Schulbüchern enthalten. Sie verführen zu falschen Lesegewohnheiten. Offene Silben mit kurzem Vokal führen zum Beispiel zu falscher Betonung, und viele Kinder lesen beim Laut ng zwei getrennte Laute.
„Sprich in Silben und hör genau hin!“ Diesen Rat hören Schüler oft, wenn es um Doppelkonsonanten geht. Um in Silben zu sprechen, muss man die Doppelkonsonanten aber bereits kennen. Insoweit kann Silbenklatschen eine gute Merkhilfe sein, wie zum Beispiel bei Was-ser. Wörter wie Schne-cke, la-chen und wa-schen erzeugen Verunsicherung. Silbenregel und Vokallänge stimmen nicht überein. Mit „Hinhören“ ist da nichts gewonnen. Silbenklatschen ist keine analytische Strategie.
Leider gibt der LehrplanPlus (Quelle unten) die Lehre mit den Silben vor. Dort heißt es bei der Jahrgangsstufe 3/4:
Die Worttrennung am Zeilenende im ersten Punkt ist das wohl unwichtigste Thema bei der Rechtschreibung. Ich kenne keinen Schüler, der am Zeilenende ein Wort trennt. Interessant ist aber der Begriff Schreibsilben. Im zweiten Abschnitt ist dann nur von Silben die Rede. In Schulbüchern gibt es aber nur eine Art von Silben, und zwar die, die der Worttrennung entspricht, die der Duden vorgibt. (Ausnahme sind Wörter wie aber.) Deswegen ist die Kompetenzerwartung im Lehrplan, dass die Schüler sich doppelte Konsonanten durch Nutzung der Silben erschließen sollen, keine empfehlenswerte Aufforderung! Die Worttrennung „di-cke“ im ersten Punkt macht das Dilemma deutlich. Das i ist kurz, die Silbe ist aber offen, der Vokal müsste laut Regel lang klingen! Da haben sich die Lehrplanverfasser ein „dickes“ oder nach ihrer Silbenregel ein „di-kes“ Ei ins Nest gelegt.
Es ist zum Haareraufen! Man könnte den langen Vokal so schön mit der offenen Silbe erklären, zum Beispiel so:
Der Vokal a hat bei Ka-ren am Ende der ersten Silbe Platz zum Klingen. Er wird von keinem Konsonanten gebremst. Bei der geschlossenen Silbe nimmt der Konsonant am Ende der ersten Silbe dem Vokal den Raum für den langen Klang. Deshalb ist der Vokal kurz. Aber, bei zu vielen Wörtern passt die schöne Erklärung nicht mit der Silbenkennung in den Schulbüchern zusammen. Und deshalb ist die Silbenregel für die Vokallänge verwirrend. Die Regel mit der Anzahl der Konsonanten nach dem Vokal reicht vollkommen aus, um die Vokallänge zu bestimmen.
Im Mai 2024 – Siegbert Rudolph
Hier können Sie meine neuen Blogs abonnieren.
Nachbemerkung: In meinen Leseübungen verwende ich Sprechsilben. Beispiele: Jung-e, Schneck-e, Wass-er, lach-en, wasch-en. Laute werden nicht zerrissen und es gibt keine offenen Silben mit kurzem Vokal.
Kommentare aus der vorhergehenden Internetseite:
Lieber Lesekoch,
Vielen Dank für diesen Artikel und der sehr verständlichen Ausführung.?
Besonders Kindern mit LRS/Legasthenie fällt es oft sehr schwer die doppelten Konsonanten auf Grund von kurzen oder langen Vokabeln zu erkennen, da ihnen ihr Gehirn nur die Laute zu erkennen gibt, sie werden durch diese Trennungsregeln oftmals sehr verwirrt.
Wir nutzen sehr häufig die Strategie „Wortstamm erkennen“, die m.E. im Schulalltag viel zu kurz kommt.
Sehr gerne teile ich diesen Beitrag.?
Viele Grüße vom Chiemsee
Michaela Mayer
Danke für diesen Artikel! Er fasst das didaktische Dilemma in der Grundschule sehr gut zusammen. Im Grunde genommen werden eigentlich alle Beteiligten nur verwirrt. Die Vokallänge zu hören und daraus die nachfolgende Konsonantenmenge zu bestimmen wäre dagegen so viel richtiger und einfacher! – Dina Beneken
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!