Zusammenfassung
„Gott sei Dank!“, war die Reaktion eines Vaters auf die medizinische Diagnose Legasthenie in einer Mitgliederwerbung des BLV. Der Vater ist erleichtert, weil er jetzt denkt, Klarheit über die Ursache der Rechtschreibschwierigkeiten seines Sohns zu haben. Dabei schließt die medizinische Diagnose lediglich medizinische und andere Gründe aus. Die Ursache der vom Psychologen bescheinigten Störung bleibt offen. Praktiker wissen, dass meist die Zeit, die zur Verfügung steht, die Person mit der gelernt oder geübt wird, oder die Methode, mit der gelernt wird, die Ursache für die Schwierigkeiten sind. Und deshalb ist es wichtig, sich so früh wie möglich um eine Förderung zu kümmern. Denn gefördert werden muss dort, wo die Schwierigkeiten des Kindes liegen. Dazu sagt die medizinische Diagnose nichts. Letztlich gibt die Anzahl der Fehler oder die Lesegeschwindigkeit, den Ausschlag für die Diagnose. Beim Lesen ist es oft die Zeit, die manchen Schülern nicht reicht. Beim Rechtschreiben identifiziere ich die Methode des regelbasierten Schreibens und die unsystematische Vorgehensweise beim Lernen als Ursache.
Krankheit als Erlösung
Die medizinische Diagnose einer Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) ist für viele Eltern eine Erleichterung. Beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) habe ich eine Mitgliederwerbung gefunden, die das überzeugend beschreibt:
Wie kam es zu der Diagnose?
Der Psychologe hat festgestellt, dass die (Lese-) Rechtschreibleistung des Kindes für sein Entwicklungsalter unterdurchschnittlich ist. Er hat den Intelligenzquotienten ermittelt, um auszuschließen, dass die kognitiven Fähigkeiten die Ursache für die Probleme sind. (Die Einbeziehung der Intelligenz ist umstritten. In anderen Ländern wird die Intelligenz im Zusammenhang mit LRS nicht gemessen.) Der Psychologe hat außerdem die Beschulung überprüft, denn die Störung könnte auch, zum Beispiel, auf eine Unterbrechung zurückzuführen sein. Schließlich hat er eine psychische Krankheit und eine Hirnschädigung ausgeschlossen.
Der Psychologe bescheinigt eine Störung, die im Weltkrankheitskatalog (ICD) aufgeführt ist. Warum die Erwartung nicht erfüllt wurde, bleibt offen. Das, was mit der medizinischen Diagnose bescheinigt wird, nämlich eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung ist ein Symptom. Ich – und da bin ich sicher nicht allein – kenne drei Faktoren, die meist die Ursachen sind: die Zeit, die dem Kind zur Verfügung steht, die Person, die das Kind lehrt oder mit ihm übt, und die Methode, nach der gelernt wird. Beim Lesen ist es meist die Zeit, die ein Problem darstellt. Die Kinder brauchen unterschiedlich lang, bekommen aber die gleiche Zeit. Insbesondere Kinder, deren Blickrichtung von rechts ist, haben einen größeren Zeitbedarf und sind benachteiligt. Beim Rechtschreiben ist es die Methode, die bei vielen Kindern keine Sicherheit entstehen lässt. Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass viele Kinder mit Defiziten in die Schule kommen, die den Schriftspracherwerb erschweren können. Umso wichtiger ist eine individuelle Förderung, und zwar möglichst früh.
Die medizinische Diagnose ist grotesk, denn sie bestätigt nur, dass es keinen medizinischen Grund für die Lernrückstände gibt, und auch keine andere Ursache identifiziert wurde. Die medizinische Diagnose Lese- und/oder Rechtschreibstörung schließt einen medizinischen Grund aus. Wer zum Beispiel nicht richtig sehen kann, hat eine Sehstörung, auch wenn die zu Leseschwierigkeiten führt, kann aber keine Diagnose LRS bekommen.
Ich kann auch nicht verstehen, dass die Fehleranzahl oder die Lesegeschwindigkeit über die Diagnose, also über eine Behinderung oder Störung entscheiden. 10 Fehler weniger oder 20 Wörter mehr pro Minute können den Unterschied ausmachen. Das kann sowohl sachliche als auch finanzielle Vor- oder Nachteile bedeuten.
Warum reagiert der Vater so erleichtert?
„Gott sei Dank!“, ist die Reaktion des Vaters auf die medizinische Diagnose. Klar: Er glaubt, jetzt Bescheid zu wissen. Sein „Bengel“ ist nicht selbst schuld an den Schwierigkeiten. Die Störung bzw. Behinderung ist für ihn halt ein Schicksal, wie bei vielen Krankheiten. Ich habe keines meiner Leseförderungskinder mit Legasthenie-Bescheinigung als gestört oder behindert empfunden. Und das waren und sind sie auch nicht. Sie können das Lesen erlernen und sich in der Rechtschreibung verbessern.
Gut ist, dass der Vater etwas unternimmt und sich Rat holt.
Wie gehe ich vor?
Wenn ich einen Schüler übernehme, interessiert mich eine Diagnose überhaupt nicht. Schließlich muss ich den Schüler sowieso testen, um herauszufinden, wo der Schüler steht und wo ich mit meiner Förderung ansetzen muss, um motivierend und zielgerichtet üben zu können. Individuell auf den Schüler einzugehen, das ist bestimmt der richtige Weg, ganz gleich, ob eine Störung bescheinigt wurde oder nicht. Ich habe noch nie einen gravierenden Unterschied zwischen Schülern mit LRS-Bescheinigung und ohne festgestellt. Ich überlege mir immer gezielte Übungen, es ist nie ein routinemäßiges Nachholen.
Um Nachteilsausgleich oder Notenschutz kümmern sich bei meinen Förderkindern die Eltern. Da muss wohl auch gelegentlich gekämpft werden. Ich wollte mich im Ruhestand damit nicht mehr beschäftigen. Einmal hat mir eine Mutter gesagt, dass ihr Sohn aufgrund meiner Förderung bei dem Folgetest zu gut abgeschnitten hat und deshalb der Notenschutz nicht mehr gewährt werden kann. Solche Beispiele zeigen, wie fragwürdig die Diagnose einer Behinderung oder Störung ist.
Mein Ziel ist immer, eine deutliche Verbesserung bei meinen Schülern zu erreichen, was beim Lesen mit unterschiedlich großem Aufwand immer gelingt.
Rechtschreiben ist schwieriger geworden
Bei der Rechtschreibung ist die Förderung deutlich aufwendiger und schwieriger als beim Lesen. In diesem Zusammenhang ein Zitat von Frau Dr. Rebecca Schumacher von der Universität Potsdam:
Das entspricht auch meiner Erfahrung. Die Rechtschreibung nach Gehör mit Regeln für die Abweichung und viele Ausnahmen zu erlernen, ist schwieriger als am Anfang des Schriftspracherwerbs einfach nur bewusst abzuschreiben, um dabei die Rechtschreibung induktiv zu begreifen. Dazu ein Zitat von Dr. Hans-Georg Müller, Dozent an der Universität Potsdam – Zentrum für Sprachbildung, Berlin:
Die heutige Methode, die durch die Reformpädagogik stark geprägt ist, ist leider wider unsere Natur, wie dieses Zitat zeigt. Viele Kinder haben bei der Rechtschreibung aufgrund des unsystematischen Vorgehens und der vielen Ausnahmen Chaos im Kopf, das zu ordnen in der Rechtschreibförderung eine große Herausforderung ist.
Notenschutz und Nachteilsausgleich sind per se gute Möglichkeiten, Kindern die Schule zu erleichtern. Wer sich von 50 Fehlern pro 100 Wörtern auf 30 Fehler verbessert, hat viel geleistet, aber immer noch die Note 6. Da hilft der Notenschutz. Aber nicht immer wird er zum Aufholen genutzt. Und: Am Ende der Schulzeit wird er oft nicht mehr gewährt oder im Zeugnis vermerkt.
Schlussbemerkung
Eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung erscheint vielen Betroffenen tatsächlich als Erlösung. Schließlich ist die Propaganda verführerisch, wie das Eingangsbeispiel zeigt. Es ist aber besser, nicht auf eine Diagnose zu warten und sich individuell so früh wie möglich um die Unterstützung der Kinder, die Lese- oder Rechtschreibschwierigkeiten entwickeln, zu kümmern. Dieser Meinung sind auch meine Kolleginnen Dina Beneken und Diana Rohrbeck und schreiben darüber in ihren Blogs. Professionelle Hilfe bei der Förderung kann die Situation für die Eltern erleichtern und entspannen.
Mir macht die Entwicklung Sorge. Beim Leseunterricht gibt es verschiedene aktuelle Aktivitäten, die zeigen, dass man in den verantwortlichen Stellen den Handlungsbedarf erkannt hat. Beim Rechtschreiben scheint die Talfahrt ungebremst weiterzugehen. Die der Reformpädagogik geschuldeten Änderungen in der Lehre sind offenbar unantastbar. Verantwortlich für die Rechtschreibmisere sind die Kultusministerien und nicht die Legasthenie als angebliche Störung oder Behinderung.
Juni 2025 – Siegbert Rudolph
Linksammlung
Statement von Frau Dr. Rebecca Schumacher
Didaktische Hinweise für den Rechtschreibunterricht in der Sekundarstufe von Dr. Hans-Georg Müller
Blog von Dina Beneken: Verdacht auf Dyskalkulie oder Lagasthenie – Diagnose/Notenschutz/Nachteilsausgleich?
Blog von Diana Rohrbeck: Rahmenbedingungen ändern für Ihr Kind mit LRS
Lesekoch-Blogs:
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