Zum Lachen oder zum Heulen
Mein Google-Alert lieferte mir folgende Schlagzeile: „Unglaubliches Wachstum des Marktes für Legastheniebehandlungen bis 2029 – Pfizer, Purdue Pharma, Cian Healthcare“.
Zitat: „Der Legasthenie-Behandlungen-Marktforschungsbericht enthält eine detaillierte Analyse, …
… die auf gründlichen Untersuchungen des Gesamtmarkts basiert, insbesondere zu Fragen, die an die Marktgröße, das Wachstumsszenario, die potenziellen Chancen, die Betriebslandschaft, die Trendanalyse und die Wettbewerbsanalyse des Legasthenie-Behandlungen-Marktes angrenzen. Diese Forschung wird durchgeführt, um die aktuelle Marktlandschaft, insbesondere im Jahr 2021, zu verstehen. Dies wird die Zukunft des Marktes prägen und das Ausmaß des Wettbewerbs auf dem Markt vorhersagen.“ Der Markt wird segmentiert in medikamentöse Behandlung, Übungsbehandlung und andere. Einige der Top-Unternehmen, die diesen Markt beeinflussen, sind im Titel schon genannt.
Ganz toll: Eine Master-Kopie des Berichtes kostet US$ 3.400,00. Da weiß ich wirklich nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Das Geld gebe ich bestimmt nicht aus. Es beschleicht mich aber das Gefühl, dass diejenigen, die sich individuell um einzelne Schüler kümmern, in diesem Markt eher unbedeutend wahrgenommen werden. Dabei ist gerade die individuelle Förderung, so früh wie möglich, der sicherste Weg, den Kindern zu helfen. Dafür gibt es genügend Belege, jeder Praktiker kann Beispiele anführen. Auch die Wissenschaft kommt zum gleichen Schluss, zum Beispiel in dem sechswöchigen Projekt der LMU München, in dem 29 schlecht lesende Erstklässler dreimal wöchentlich 20 Minuten extra übten, und zwar Buchstaben-Lautzuordnungen, Silbenlesen und Lesen einfacher Wörter. Ich habe den Bericht in einer Tagung des Landesverbandes Legasthenie in München am 2. Februar 2019 von PD Kristina Moll gehört. Das Ergebnis: Die Leseschwäche wurde deutlich verringert. Wissenschaft und Praxis wissen, wie es geht, aber nur die Praxis tut wirklich etwas. Das, was die Wissenschaft herausbringt, wird in den Kultusministerien nicht aufgegriffen. Der Anspruch der Schule, die Kinder individuell zu fördern, bleibt aus verschiedenen Gründen auf der Strecke. Und, dass die Zahlen der leseschwachen Grundschüler konstant noch oben gehen, das interessiert die Verantwortlichen offenbar nicht. Lt. der neuesten IFS-Schulpanelstudie sind es inzwischen 28 Prozent. Insoweit wird dieser Marktbericht wohl in die richtige Richtung gehen.
Ein Kapitel habe ich im Inhaltsverzeichnis nicht gefunden: Unbürokratische Zusammenarbeit zwischen Schulen und freiberuflichen oder ehrenamtlichen Lesetrainern, um Kinder so früh wie möglich individuell zu fördern. Das wäre ein Ansatz, das Problem anzugehen. Voraussetzung wäre allerdings, dass sich entweder die Schulbehörde darum kümmert oder aber die Schulen selbst Freiräume dafür bekämen, was aber auch von den Ministerien ausgehen müsste. Dabei steht im LehrplanPLIUS für die Grundschule in Bayern schon Wegweisendes im Kapitel „Vernetzung mit weiteren Bildungspartnern“. Papier aber ist geduldig!
Ich kann nur hoffen, dass möglichst viele Kinder einen Lesepaten oder Lesetrainer finden, der sich individuell um sie kümmert und sie voranbringt. Und diesen Trainern wünsche ich viel Erfolg!
Im Juni 2012 – Siegbert Rudolph
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