KI über alles – wirklich?
Es war zu erwarten: KI kann alles richten! Legasthenikern hilft sie – einem Artikel von Mario Engel, Link unten, zur Folge – „von der Stigmatisierung zur Superpower“. Der Autor unterscheidet allerdings nicht zwischen Lesen und Rechtschreiben. Er glorifiziert Menschen, die die Rechtschreibung nicht beherrschen, als „Weltmeister in Sachen Empathie, Kreativität und innovativem Denken“. Nicht, dass ich irgendwelchen Menschen diese Fähigkeiten absprechen will, aber mangelhafte Rechtschreibung ist bestimmt keine Voraussetzung dafür.
Rechtschreibung kann man lernen
Wer die Rechtschreibung nicht kennt, hat sie halt nie richtig gelernt. Das muss nicht die Schuld der betroffenen Menschen sein. Der Lehrplan unseres Schulsystems wurde vor Jahrzehnten von induktivem Lernen auf Deduktion umgestellt. Das erschwert das Erlernen der Rechtschreibung. Mit Regeln zu arbeiten, ist schwieriger als die Rechtschreibung durch viel Abschreiben induktiv zu erfahren. Das Rechtschreibniveau geht generell zurück.
Beim Schreiben übt man erst einmal mühsam eine Schrift ein, die die Kinder nach kurzer Zeit umlernen müssen. Das ist weder effizient noch effektiv. Die handwerklichen Fertigkeiten, eine Grundvoraussetzung für sicheres Schreiben, können viele Kinder gar nicht erst entwickeln.
Die Rechtschreiblehre erfordert zudem eine strenge Systematik. Die Logik der Rechtschreibung ist schwammig. Das bedingt ein strenges, systematisches Vorgehen. Frühes, freies Schreiben mit der Schreibtabelle, in der die Zuordnung der Laute zu Buchstaben zudem nur unzureichend abgebildet ist, führt zur Ähnlichkeitshemmung. Regeln und Ausnahmen werden zu früh vermischt. Es gibt zu wenig repetitive Übung, und an der handwerklicher Schreibfertigkeit, einer unverzichtbaren Voraussetzung für gute Rechtschreibung, mangelt es oft. Die Folge ist Chaos im Kopf, eine Rechtschreibstörung.
Meinen professionellen Kolleginnen und Kollegen, u.a. im Kompetenzzirkel Lernen, gelingt es aber, diese Störung zu beseitigen, durch enormen Zeiteinsatz, Einfühlungsvermögen, Geduld und Kreativität. Hier die Startseite einer Kollegin, die nach eigenen Angaben auch von Legasthenie betroffen war:
Startseite einer Kollegin – Link am Ende des Artikels
Ich selbst habe es in meiner Zeit, als ich in Schulen Rechtschreibförderung betrieben habe, in der zur Verfügung stehenden begrenzten Zeit auch geschafft, die Probleme auf Teilgebieten zu beseitigen, zum Beispiel bei der Groß- und Kleinschreibung.
KI und Rechtschreibung
Es ist aber schon richtig, dass die KI erstaunlich viel kann und richtig macht. Ich habe vor einiger Zeit in einer Diskussion über KI gefragt, woran ich denn erkennen könne, dass jemand meine Mails mit KI beantwortet. Die Antwort des Referenten war verblüffend: „Es sind keine Rechtschreibfehler drin!“
Diskussionsausschnitt aus einer KI-Veranstaltung
Ich habe mal ein Diktat einer meiner früheren Schülerinnen von der KI korrigieren lassen:
Meine Schülerin schrieb:
Diktat, Mittelschülerin, geübt wurde die Groß- und Kleinschreibung, und nur diese Fehler wurden besprochen und nochmal geübt
24 Fehler bei 63 Wörtern! Google Gemini korrigiert den Text perfekt, null Fehler bei der KI! Diktate werden in Bayern zur Leistungsbewertung eh nicht herangezogen. Da ist die Schulbehörde schon vor Jahren eingeknickt. Wenn der Einsatz von KI erlaubt ist, könnte eine Bewertung der Rechtschreibung komplett entfallen. Ein Gedanke, der bestimmt viele Schülerherzen höherschlagen lässt.
Ich nutze die KI auch, zum Beispiel bei der Umstellung meiner PowerPoint-Übungen auf WordPress mit einem Vorleseprogramm. Da spare ich viel Zeit. Aber, es kommt schon vor, dass die KI bei manchen Aufgaben, die sie mehrmals richtig erledigt hat, bei gleichem Prompt, aber mit anderen Wörtern oder Sätzen, plötzlich etwas anderes macht, Wörter austauscht oder fehlerhaft schreibt, oder gar Wörter aus früheren Aufgaben hinzunimmt. Die KI wird zwar gern als Assistent bezeichnet, sie ist aber einer, von dem wir nicht genau wissen, wie er seine Aufgaben erledigt. Ich überprüfe die Ergebnisse immer, die Zeitersparnis ist trotzdem immens.
Die KI ermöglicht uns, Dinge zu tun, die wir ohne sie nicht könnten. Ob uns das „empowert“, wie Herr Engel schreibt, hängt vom Einzelfall ab. Wer der KI vertrauen muss, weil er nicht einmal die Grundlagen des Fachgebietes kennt, der begibt sich aufs Glatteis. Der Autor hält es für „Scheinheiligkeit“, hier von Abhängigkeit zu sprechen. „Niemand würde einem Kurzsichtigen die Brille wegnehmen“, führt er dazu aus. Ja, klar, weil der Kurzsichtige von der Brille tatsächlich abhängig ist. Wenn es „nur“ um die Rechtschreibung oder bessere Formulierungen geht, ist das Risiko überschaubar.
KI wird genutzt, wo sie die Arbeit leichter macht
Im Artikel wird ein Prof. Michael Schulze zitiert, der ausführt, dass die KI eine Konzentration auf menschliche Stärken ermöglicht.
Professor Michael Schulze
Hier, denke ich, irrt der Professor. Es stimmt zwar: Wenn technische Aspekte, hier sind wohl die Rechtschreibung und vielleicht die Grammatik gemeint, das Problem beim Erstellen von Texten sind, sind Hilfsmittel wie die KI die Erlösung. Aber, wenn die technischen Aspekte keine Rolle spielen, sei es, weil man sie beherrscht oder weil man die KI einsetzen kann, dann ist das Anstrengendste beim Schreiben, auf originelle Gedanken zu kommen und kreative Wege zu finden. Mir haben schon mehrfach Bekannte erzählt, dass sie die KI genau dafür nutzen, natürlich nur, damit sie Anregungen bekommen. Genau: Man delegiert die schwierige Aufgabe, kreativ und originell zu sein, auf die KI, die macht das schmerzfrei. Auf Veranstaltungen habe ich schon mehrfach Redner gehört, die stolz sagten, dass sie da mal die KI befragt hätten und dann deren Ergebnis mehr oder weniger nachplapperten.
Legasthenie wird sexy?
Legastheniker haben eine starke Lobby. Das ist sicher auch gut so. Aber es wäre noch besser, wenn sich diese Lobby auch dafür einsetzen würde, dass die Ursache für die seit Jahrzehnten ständig zunehmenden Fälle von Rechtschreibstörung beseitigt wird. Dass Legasthenie eine andere Art der Informationsverarbeitung bedeutet, das ist nicht bewiesen. Bei der medizinischen Diagnose wird ein medizinischer Grund explizit ausgeschlossen (Link unten). Sarkastisch formuliert: Wer die Rechtschreibung trotz unserer perfekten Lehre und unserer bestens ausgestatteten und funktionierenden Schulen nicht richtig lernt, der muss irgendwie anders ticken. Selbstzweifel kennt man in den verantwortlichen Behörden nicht.
Ich beobachte, dass es schick wird, legasthen zu sein. Viele Prominente kokettieren damit. Eine bekennende Legasthenikerin hat einmal gesagt, dass ihr das Gehör einfach keine Doppelkonsonanten freigebe, sie könne die einfach nicht hören – siehe Link unten. Hat ihr denn niemand erklärt, dass man Doppelkonsonanten gar nicht hören kann?
KI beim Rechtschreiben in der Schule
Mir geht es in diesem Artikel nicht um die generelle Frage, wie man in Schulen mit der KI umgehen sollte. Das ist ein größeres Thema.
In der Schule wird grundsätzlich mit der Hand geschrieben. Da kommt man an der Rechtschreibung nicht vorbei. Wenn aber in höheren Klassen manche Schüler in der Schule bei der Rechtschreibung die KI einsetzen dürfen, andere Schüler aber nicht, wird das zu Problemen führen. Die Dimension ist größer als bei einem Vorlesestift oder Rechtschreibkorrekturprogramm. Auch wenn die KI nicht eingesetzt werden darf, werden Schüler sich bei der Rechtschreibung nicht mehr anstrengen, denn sie wissen ja, dass sie die später sowieso der KI überlassen. Diese Argumentation hört man heute schon, wie mir aus einer Schule berichtet wurde.
Vielleicht dürfen einmal, ab einer bestimmten Jahrgangsstufe, alle Schüler die KI für die Rechtschreibung nutzen? Allerdings kommt dann die Frage: Warum überhaupt noch „Rechtschreibung pauken“, wenn man sie in höheren Klassen nicht mehr braucht? Diese Frage kommt so sicher, wie die Entscheidung gekommen ist, das Schönschreiben abzuschaffen, weil man als Erwachsener eh anders schreibt, vulgo schmiert. Ich habe nie Rechtschreibung gepaukt, sondern viel ge- und abgeschrieben, also induktiv gelernt, so wie ich als Kind auch gelernt habe, unsere schöne Sprache fehlerfrei zu sprechen, ohne eine einzige Grammatikregel zu kennen.
KI kann die Arbeit erleichtern. Sie kann uns auch das Denken abnehmen. Aber, wer weniger denkt, läuft Gefahr, aus der Übung zu kommen.
September 2025 – Siegbert Rudolph
Links
Mario Engel – Legasthenie und KI: es muss nicht so kompliziert sein
Legasthenielinz: Rechtschreiben kann man lernen
Lernbegleiter suchen: Kompetenzzirkel Lernen
Lesekoch-Blogs:
Kokettieren mit der Legasthenie: Legasthenie ist, wenn man kein Doppel-s hört
Zum Thema induktives Lernen und Deduktion siehe: Denken beim Schreiben
Zur medizinischen Diagnose: Krankheit als Erlösung
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Das Thema ist bei mir gerade auch sehr aktuell, vor allem bei den Schülern ab Klasse 7.
Da kam auch schon ganz oft „Warum noch Rechtschreibung üben, Autokorrektur, ChatGPT und Co. machen das doch automatisch…“
Mir hat ein Gespräch mit einer Psychotherapeutin geholfen, die Erwachsene Legastheniker und Autisten als Patienten hat. Da kamen super viele Argumente raus, die eben genau das widerlegen, dass man das getrost außer Acht lassen kann.
Danke für deinen Beitrag dazu 👍
Viele Menschen glauben, dass Künstliche Intelligenz ein Ersatz für eine klassische Rechtschreibprüfung ist. Doch das stimmt nicht.
KI ist weder eine Rechtschreibprüfung noch ein Terminologieprogramm. Statt feste Regeln anzuwenden, berechnet sie Wahrscheinlichkeiten für Buchstaben- und Wortfolgen auf Basis der Texte, die sie zuvor zum Training „gelesen“ hat.
Oder anders gesagt: Die Schreibweise wird nicht durch fest hinterlegte Wörterbücher oder Regeln wie beim Duden gesteuert, sondern durch statistische Muster. Für das Lesenlernen ist dieser Unterschied spannend, denn so wird deutlich, dass KI Texte nicht wirklich „versteht“, sondern anhand von Mustern vorhersagt, wie Sprache wahrscheinlich weitergeht. Und wenn
das Trainingsmaterial dafür falsch oder schlampig geschrieben ist, schreibt auch die KI falsch
Liebe Frau Dr. Speyerer, vielen Dank für diesen Hinweis. Das macht vielleicht doch ein bisschen nachdenklich. In meinem Blog hab ich das leider nur schemenhaft angedeutet, mit dem Hinweis, dass wir beim Assistenten KI nicht wissen, wie der arbeitet. Nchmals vielen Dank für die Ergänzung! Siegbert Rudolph
Das ist wirklich ein Artikel, der mir in allen Punkten aus der Seele spricht. Vielen Dank für deine pointierte Sicht der Dinge!